Katholische Religion und die Moden

Viele Menschen sind in die alberne Gewohnheit verfallen, Orthodoxie ( die katholische Religion) für etwas Schwerfälliges, Langweiliges und Gefahrloses zu halten. Aber nie gab es etwas Riskanteres und Packenderes als sie. Sie war der gesunde Verstand – und bei Verstand zu sein ist dramatischer, als verrückt zu sein.

Sie war das Gleichgewicht eines von wild galoppierenden Pferden gezogenen Wagenlenkers, der sich hierhin zu beugen und dorthin zu neigen scheint, aber in jeder Lage die Anmut der Statue und die Genauigkeit der Arithmetik wahrt. In der Frühzeit geriet die Kirche bei jedem Schlachtross völlig außer sich; dennoch ist es einfach unhistorisch zu behaupten, sie sei nur von einer einzigen Idee besessen gewesen, wie der gewöhnliche Fanatismus. Sie schwenkte nach links und rechts aus, gerade als wollte sie gewaltigen Hindernissen ausweichen.

Sie machte einen Bogen um den Riesenleib des Arianismus, weil er das Christentum im Verein mit allen weltlichen Mächten zu sehr verweltlichen wollte; und im nächsten Augenblick einen Schlenker um den Orientalismus, weil er es zu sehr entweltlicht hätte. Nie ging die orthodoxe (katholische) Kirche den einfachen Weg oder beugte sich den Konventionen; nie war sie wohlanständig.

Es wäre leichter gewesen, die irdische Macht der Arianer zu akzeptieren. Es wäre leicht gewesen, im calvinistischen 17. Jahrhundert in die bodenlose Grube der Prädestination zu fallen. Es ist leicht, ein Verrückter, und leicht, ein Häretiker zu sein. Es ist immer leicht, der Epoche ihren Kopf zu lassen; schwer ist es, den eigenen zu bewahren. Es ist immer leicht, ein Modernist zu sein genauso wie ein Snob.

In die eine oder andere dieser offenen Fallgruben des Irrtums und der Übertreibung zu geraten, mit denen alle Moden und alle Sekten den historischen Weg der Christenheit gesäumt haben – das wäre doch einfach gewesen. Fallen ist immer einfach; es gibt unzählige Punkte, wo man fällt, aber nur einen, wo man steht. In die eine oder andere der vielen Moden von der Gnosis bis zur Christian Science zu verfallen – das wäre doch nahe liegend und gefahrlos gewesen.

Aber sie alle umgangen zu haben, das war ein einziges wirbelndes Abenteuer. Und so sehe ich den himmlischen Streitwagen mit Donnern durch die Zeiten stürmen: Während die kraftlosen Ketzereien am Boden hingestreckt liegen, steht die ungestüme Wahrheit schwankend, aber aufrecht.

Aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt VI: Die Paradoxa des Christentums

Entfesselte Tugenden

Die moderne Welt ist nicht böse; in mancher Hinsicht ist sie entschieden zu gut. Sie ist voll Wüsten und vergeudeter Tugenden. Wenn ein religiöses System zertrümmert wird (wie das mit dem Christentum in der Reformation geschah), dann führt das nicht nur zu einer Entfesselung der Laster.

Keine Frage, dass die Laster entfesselt werden; sie streifen umher und stiften Schaden. Aber auch die Tugenden werden entfesselt, und sie streifen noch haltloser umher und richten noch schrecklicheren Schaden an.

Die heutige Welt steckt voll von alten christlichen Tugenden, die durchgedreht sind. Sie sind durchgedreht, weil sie auseinander gerissen wurden und allein umherstreifen.

So kümmert sich etwa die Wissenschaft um die Wahrheit; und ihre Wahrheit ist erbarmungslos. Und so interessiert sich die Philanthropie nur fürs Erbarmen, und ihrem Erbarmen fehlt (so leid es mir tut, das sagen zu müssen) oft die Wahrheit.

Mr. Blatchford[1] zum Beispiel greift das Christentum an, weil er verrückt nach einer einzigen christlichen Tugend ist: der für sich genommen mystischen und fast irrationalen Tugend der Barmherzigkeit. Er hegt die merkwürdige Vorstellung, daß es leichter sei, Sünden zu vergeben, wenn man davon ausgeht, daß es gar keine Sünden gibt, die vergeben werden müssten.

Mr. Blatchford ist nicht nur ein Vertreter des Frühchristentums, er ist auch der einzige frühchristliche Mensch, der es wirklich verdient hätte, von den Löwen gefressen zu werden. Denn auf ihn trifft die heidnische Beschuldigung tatsächlich zu: seine Barmherzigkeit liefe auf schiere Anarchie hinaus. Er ist wirklich ein Feind der Menschheit – weil er so menschenfreundlich ist.

Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt III. DER SELBSTMORD DES DENKENS

[1] Robert Peel Glanville Blatchford (1851-1943), englischer Sozialreformer, Begründer der Manchester Fabian Society und Herausgeber des Clarion. Zu Chesterton und Blatchford vgl. das Nachwort von Philip Yancey.

Monogamie

Ich habe mich nie mit dem verbreiteten Gemurre gegen die Monogamie anfreunden können, das die neue Generation anstimmt, weil ich finde, daß keine Einschränkung der sexuellen Freiheit an Unfaßlichkeit und Unerhörtheit die Sexualität selbst übertreffen kann. Wie Endymion die Mondgöttin lieben zu dürfen und sich dann zu beschweren, daß Jupiter sich einen Harem von Mondgöttinnen hält, erscheint mir (der ich mit Märchen wie dem von Endymion aufgewachsen bin) als vulgäre Entgleisung.

Sich auf eine Frau zu beschränken ist ein geringer Preis dafür, daß man überhaupt von einer Frau gewürdigt wird. Sich zu beklagen, daß man nur einmal heiraten kann, ist so, als beklagte man sich, daß man nur einmal geboren wird. Diese Haltung stand in völligem Widerspruch zu der ungeheuren Erregung, um die es dabei ging. Sie bewies nicht etwa besondere Aufgeschlossenheit für die Sexualität, sondern im Gegenteil eine merkwürdige Unempfänglichkeit für sie.

Nur ein Narr bedauert, daß er den Garten Eden nicht durch fünf Tore gleichzeitig betreten kann. Polygamie ist ein Mangel an Fähigkeit, das Potential der Sexualität zu realisieren; sie erinnert an einen Menschen, der eine Birne essen will und geistesabwesend fünf abpflückt.

Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt IV. DIE ETHIK DES ELFENLANDES

Künstler und Kritiker

Kritiker neigen weit mehr zum Wahnsinn als Dichter. Homer ist aus einem Guß und die Ruhe selbst; seine Kritiker sind es, die aus ihm ein ungereimtes Stückwerk machen.

Shakespeare ist ganz er selbst; nur ein paar seiner Kritiker haben entdeckt, daß er ein anderer war.

Und obwohl der Evangelist Johannes in seinen Visionen viele seltsame Ungeheuer erblickte, sah er doch kein Geschöpf, das so irrsinnig war wie manch einer seiner Kommentatoren.

Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt II: Der Besessene

Der Ernst

Der Ernst gehört nicht zu den Tugenden. Dass er ein Laster ist, wäre ein ketzerischer Gedanke, aber einer, der sehr viel mehr einleuchtet. Ernst sein ist ein natürlicher Hang, ein Abrutschen in die Gewohnheit, sich selbst ernst zu nehmen, da uns das am leichtesten fällt. Ein guter Leitartikel in der Times ist leichter zu schreiben als ein guter Witz im Punch. Denn gesetzt sind die Menschen von Natur aus; Lachen hingegen erfordert einen Sprung.

Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt VII: Die ewige Revolution

Chesterton II

„The whole modern world has divided itself into Conservatives and Progressives. The business of Progressives is to go on making mistakes. The business of Conservatives is to prevent mistakes from being corrected. Even when the revolutionist might himself repent of his revolution, the traditionalist is already defending it as part of his tradition. Thus we have two great types–the advanced person who rushes us into ruin, and the retrospective person who admires the ruins. He admires them especially by moonlight, not to say moonshine.“

(Gilbert K. Chesterton, 1924)

Revolutionäre Christen?

Wie wir schon sahen, lautet eines der Argumente, mit denen begründet wird, warum man für den Fortschritt eintreten soll: dass die Welt von Natur aus immer besser wird. Aber der einzig wahre Grund, ein Fortschrittsanhänger zu sein, besteht doch darin, dass die Welt von Natur aus immer schlimmer wird. Der allgemeine Verfall spricht nicht nur dafür, progressiv zu sein; er spricht auch als einziges dafür, nicht konservativ zu sein.

Gegen den Konservativismus bliebe uns kaum eine Gegenkraft oder Erwiderung, gäbe es nicht dieses eine Faktum. Alles Konservative beruht auf der Vorstellung, dass man, wenn man die Dinge sich selbst überlässt, sie so lässt, wie sie sind. Das tut man aber mitnichten. überlässt man etwas sich selbst, so überlässt man es einem rasanten Wandel. überlässt man einen weißen Pfosten sich selbst, wird er bald schwarz sein. Möchte man unbedingt, dass er weiß bleibt, so muss man ihn immer wieder streichen; das heißt, man muss beständig für eine Revolution sorgen.

Kurz, wer den alten weißen Pfosten will, muss für einen neuen weißen Pfosten sorgen. Trifft dies aber schon auf Unbelebtes zu, so in besonderem und zugespitztem Sinn auf alles Menschliche. Weil menschliche Institutionen so unglaublich schnell veralten, wird jedem Bürger eine fast unnatürliche Wachsamkeit abverlangt. In Groschenromanen und Zeitungsartikeln ist fast immer von Menschen die Rede, die unter einer alten Tyrannei leiden. In Wirklichkeit haben die Menschen aber meist unter neuen Tyranneien gelitten; unter Tyranneien, die kaum zwanzig Jahre zuvor noch bürgerliche Freiheiten waren.

England zum Beispiel bejubelte die „patriotische Monarchie Elisabeths“ -und dann fluchte es (fast unmittelbar danach) unter Karl I. in der Falle der Despotie. In Frankreich wiederum wurde die Monarchie nicht etwa untragbar, nachdem sie ertragen, sondern nachdem sie angebetet worden war. Der guillotinierte Ludwig war der Sohn des von allen geliebten Ludwig XIV. Und im England des 19. Jahrhunderts galt der radikale Fabrikant als vertrauenswürdiger Sprecher des Volkes, bis plötzlich die Sozialisten aufschrieen, er sei ein Tyrann, der sich vom Volk ernähre wie von Brot.

Als letztes sei daran erinnert, dass wir noch unlängst die Zeitungen für vertrauenswürdige Organe der öffentlichen Meinung hielten. Erst jetzt haben manche (nicht allmählich, sondern mit einem Schlag) erkannt, dass davon nicht die Rede sein kann. Die Presse ist – und das liegt in der Natur der Sache – das Hobby einiger reicher Männer.

Wir brauchen also nicht gegen das Alte zu rebellieren; wir müssen gegen das Neue rebellieren. Die neuen Herrschenden, der Kapitalist oder der Verleger, sind die Stützen der Moderne. Es besteht keine Gefahr, dass heutzutage ein König versuchen könnte, die Verfassung außer Kraft zu setzen; wahrscheinlicher ist, dass er sie ignoriert und hinter ihrem Rücken handelt; zugute kommen wird ihm dabei nicht seine königliche Macht, sondern seine königliche Machtlosigkeit, die Tatsache, dass Kritik und Öffentlichkeit ihn nicht erreichen. Denn der König ist die privateste Privatperson unserer Zeit. So erübrigt sich auch der Kampf gegen die gesetzlich geplante Pressezensur. Pressezensur brauchen wir nicht, wir haben die Zensur durch die Presse.

Dass populäre Systeme sich so erschreckend schnell in repressive verwandeln, ist also das dritte Faktum, das unsere perfekte Fortschrittstheorie berücksichtigen sollte. Stets muss sie im Blick haben, wo ein Privileg missbraucht und wo geltendes Recht zu Unrecht wird.

In dieser Frage stehe ich ganz auf Seiten der Verfechter der Revolution. Eigentlich haben sie recht mit ihrem ständigen Misstrauen gegenüber menschlichen Institutionen; sie haben Recht, weder Fürsten noch Menschen überhaupt zu vertrauen. Der politische Führer, der gewählt wurde, um ein Freund des Volkes zu sein, wird zum Feind des Volkes; die Zeitung, die gegründet wurde, um die Wahrheit auszusprechen, ist jetzt dazu da, das Aussprechen der Wahrheit zu verhindern. In diesem Punkt sah ich mich wirklich auf Seiten des Revolutionärs. Und dann hielt ich erneut den Atem an, denn mir fiel ein, dass ich auch diesmal auf Seiten des Orthodoxen stand.

Wieder sprach das Christentum und sagte:

<Immer habe ich geltend gemacht, dass die Menschen von Natur aus rückfällig sind; dass die menschliche Tugend von sich aus zu verkümmern und verrotten droht; immer habe ich gepredigt, dass die Menschen als solche sündig sind, besonders die glücklichen Menschen, besonders die stolzen und wohlhabenden Menschen. Diese ewige Revolution, diesen durch die Jahrhunderte hindurch wach gehaltenen Argwohn, nennst du (als unentschiedener Moderner) die Lehre vom Fortschritt. Wärst du ein Philosoph, würdest du es wie ich die Lehre von der Erbsünde nennen. Nenne es kosmischen Fortschritt, so viel du magst; ich bezeichne es als das, was es ist:  Sündenfall>

 

Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt VII: Die ewige Revolution