Kurze Erzählung vom Antichrist (06): Das Friedensreich des Imperators

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Das Friedensreich des Imperators

Bald nach Erscheinen dieses Werkes, das seinen Verfasser zum volkstümlichsten Mann machte, der je gelebt hatte, sollte in Berlin die konstituierende Versammlung der Vereinigten Staaten Europas stattfinden.
Dieser Bund hatte sich nach einer Reihe äußerer und innerer Kriege gebildet, die als Folge der Befreiung vom Mongolenjoch die Karte Europas grundlegend verändert hatten. Nun aber war der Bund durch Konflikte gefährdet, die aber nicht mehr zwischen den Nationen, sondern unter den politischen und sozialen Parteien ausgetragen wurden.

Die Verantwortlichen der europäischen Gesamtpolitik – sie gehörten zur mächtigen Brüderschaft der Freimaurer – kamen zur Überzeugung, daß eine gemeinsame Exekutivmacht notwendig sei. Die europäische Einheit, die nach so vielen Anstrengungen errungen worden war, lief ständig Gefahr, wieder zu zerfallen.

Im Bundesrat oder dem Verwaltungsdirektorium (Comité Permanent Universel) herrschte keine Einstimmigkeit, da es nicht gelungen war, alle führenden Stellen mit „eingeweihten“ Freimaurern zu besetzen. Im Rate selbst schlossen die unabhängigen Mitglieder untereinander Sonderabkommen und damit drohte ein neuer Krieg. Angesichts dieser Gefahr beschlossen die „eingeweihten“ Freimaurer, die vollziehende Gewalt einer einzigen Person zu übertragen, welche mit hinreichenden Vollmachten ausgestattet werden sollte.

Der geeignetste Kandidat war ein insgeheimes Mitglied des Ordens, eben jener Mann der Zukunft. Er war die einzige Persönlichkeit mit weltberühmtem Namen. Durch gelehrte Arbeiten auf dem Gebiete der Artillerie und durch sein Vermögen mächtiger Kapitalist, unterhielt er überall enge Beziehungen zu Kreisen der Hochfinanz und der Armee. In weniger aufgeklärten Zeiten hätte ihm der Makel seiner Ungewissen Herkunft geschadet. Seine Mutter, eine Person von fragwürdigem Vorleben, war in beiden Hemisphären wohl bekannt und unter vielen, sehr verschiedenen Männern hatten alle das gleiche Recht, sich für seinen Vater zu halten. In einem so fortschrittlichen Jahrhundert, das sogar das letzte sein sollte, konnten ihm derartige Umstände natürlich überhaupt nicht schaden.
Fast einstimmig wurde der Mann der Zukunft auf Lebenszeit zum Präsidenten der „Vereinigten Staaten von Europa“ gewählt.

Als er im überirdischen Glanz seiner jugendlichen Schönheit und Kraft auf der Tribüne erschien und mit hinreißendem Pathos sein Weltprogramm darlegte, beschloß die Versammlung in auflodernder Begeisterung, ihm die höchste Ehre zuteil werden zu lassen. Durch Zuruf wurde ihm der Titel eines römischen Imperators verliehen.
Der große Auserwählte erließ ein Manifest, das mit den Worten begann: „Völker der Erde! Meinen Frieden gebe ich Euch!“ und mit den Sätzen schloß: „Völker der Erde! Die Verheißungen haben sich erfüllt! Der ewige Weltfriede ist gesichert. Jeder Versuch, ihn zu stören, wird sofort auf unüberwindlichen Widerstand stoßen. Denn von jetzt an gibt es auf der Erde nur eine einzige Macht, die stärker ist als alle anderen Mächte, mögen diese getrennt oder gemeinsam vorgehen wollen. Diese Macht ist in meiner Hand vereinigt, in der Hand des bevollmächtigten Auserwählten Europas, in der Hand des Herrschers über alle seine Kräfte. Das Völkerrecht besitzt jetzt endlich jene Sanktionen, die ihm bisher fehlten, von nun an wird kein Staat zu erklären wagen ‚Krieg!‘, wenn ich sage ‚Friede!‘ — Völker der Erde, der Friede sei mit Euch!“

Das Manifest hatte den erwünschten Erfolg. Überall außerhalb Europas, besonders aber in Amerika, bildeten sich starke imperialistische Parteien, die ihre Regierungen veranlaßten, unter verschiedenen Bedingungen mit den Vereinigten Staaten von Europa unter der Führung des Römischen Imperators Bündnisse einzugehen.

(Fortsetzung folgt)

Die Serie

Kurze Erzählung vom Antichrist (05)

(Fortsetzung: Der Übermensch – zurückweiter)

Schaum vor dem Munde, entflieht er in jagender Hast dem Hause, dem Garten, in die unheimliche und finstere Nacht hinaus. Er eilt einen steinigen Saumpfad bergan. Allmählich legt sich seine Wut. Sie macht einer Hoffnungslosigkeit Platz, die so ausgebrannt und lastend wie diese Felsen, die so dunkel wie diese Nacht ist. Vor einem jähen Abgrund bleibt er stehen, aus der Tiefe hört er einen tosenden Wildbach, der über Geröll hinabstürzt. Eine wilde Qual preßt sein Herz.

Plötzlich rührt etwas an sein Inneres: „Soll ich Ihn beschwören, Ihn fragen, was ich tun soll?“ In der Finsternis erblickt er ein sanftes und trauriges Gesicht. „Er hat Mitleid mit mir … nein, niemals! Er ist nie auferstanden!“
Und er stürzt sich in den Abgrund.

Doch da hält ihn etwas Unfaßbares, etwas wie eine Wassersäule auf. Er fühlt eine Erschütterung wie von einem elektrischen Schlage, und eine geheimnisvolle Kraft wirft ihn zurück. Für einen Augenblick verliert er das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kommt, liegt er wenige Schritte vor dem Abgrund auf den Knien. Vor ihm erstrahlt wie durch Nebel in phosphorischem Licht ein Gesicht. Zwei Augen bohren sich mit unerträglichem und schneidendem Glanz in seine Seele. Erstarrt unter diesem hypnotischen Blick hört er eine Stimme, ohne erraten zu können, ob sie aus seinem Innern oder von außen her kommt. Es ist eine seltsame Stimme, dumpf und dennoch klar, aber seelenlos wie schwingendes Metall.

So, als käme sie aus einer Sprechmaschine, spricht sie ihn an: „Du bist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe! Warum hast Du nicht mich gesucht? Warum hast Du jenen anderen vorgezogen, den Falschen und seinen Vater? Dein Gott und Dein Vater bin ich. Jener Bettler aber, der Gekreuzigte, ist mir und Dir fremd. Ich habe keinen anderen Sohn als Dich. Du bist der Einzige, der Eingeborene, der Ebenbürtige. Ich liebe Dich und ich fordere nichts von Dir. Du bist so schön, so groß und so mächtig. Vollbringe Dein Werk in Deinem, nicht in meinem Namen. Kein Neid gegen Dich ist in mir. Ich liebe Dich und ich will nichts von Dir. Der andere, jener, von dem Du geglaubt hast, Er sei Gott, forderte von seinem Sohn Gehorsam, unbegrenzten Gehorsam bis zum Kreuzestod — und dann verließ Er ihn. Ich aber werde Dir helfen, ohne etwas von Dir zu fordern. Aus einer uneigennützigen Liebe zu Dir, um Deiner Würde willen werde ich Dir helfen. Empfange meinen Geist! Wie einst mein Geist Dich in Schönheit hervorgehen ließ, so wird er Dich jetzt in Kraft neu erstehen lassen.“

Bei diesen Worten des Geheimnisvollen öffneten sich unwillkürlich die Lippen des Übermenschen. Seinem Gesicht näherten sich die zwei durchdringenden Augen. Er fühlte, wie ein eiskaltes Feuer ihn durchströmte und sein ganzes Wesen erfüllte. Aber zugleich empfand er auch eine nie gekannte Kraft, Kühnheit, Unbeschwertheit und Begeisterung.

Im selben Augenblick erlosch die schimmernde Erscheinung und mit ihr das Augenpaar. Irgendetwas erhob den Übermenschen weit über die Erde hinaus und ließ ihn ebenso plötzlich wieder in seinem Garten, an der Schwelle des Hauses nieder.

Am nächsten Tage waren nicht nur die Besucher, sondern auch die Diener des großen Mannes erstaunt über den vergeistigten Ausdruck seines Gesichtes. Sie wären noch mehr überrascht gewesen, hätten sie sehen können, wie er, eingeschlossen in seinem Arbeitszimmer, mit übernatürlicher Schnelligkeit und Leichtigkeit sein berühmtes Werk schrieb, das den Titel trug: „Offener Weg zum Weltfrieden und allgemeinen Wohlstand.“

Die früheren Schriften und die soziale Tätigkeit des Übermenschen hatten manche strenge Kritik gefunden. Doch diese Kritik war hauptsächlich von rein religiösen Menschen geübt worden, die allein schon deshalb keinen Einfluß besaßen. — Denn es ist ja von jenen Zeiten die Rede, in denen der Antichrist auftrat. Daher hatte man auch kaum auf die Kritiker gehört, die in allen Werken und Reden dieses Mannes der Zukunft Anzeichen einer außerordentlichen Selbstliebe, eines starken Dünkels und den Mangel jeder Einfachheit und wahren Herzenswärme betonten. Sein neues Werk gewann aber selbst einige seiner bisherigen Kritiker und Gegner.

Dieses Buch, unmittelbar nach dem Erlebnis am Abgrunde geschrieben, offenbarte eine vorher noch unbekannte Kraft seines Genies. Es war etwas Allumfassendes, in dem sich alle Widersprüche lösten. Hier vereinigten sich vornehme Ehrerbietung vor den Überlieferungen und Symbolen der Vergangenheit und weitgehender kühner Radikalismus in den politischen wie sozialen Sehnsüchten und Forderungen, unbegrenzte Gedankenfreiheit und tiefstes Verständnis der Mystik, bedingungsloser Individualismus mit begeisterter Hingabe an das Allgemeinwohl, erhabener Idealismus in den Prinzipien und Bestimmtheit wie Lebenserfahrung in den praktischen Entscheidungen.
Und dies alles war durch ein so ideales Künstlertum vereinigt und verbunden, daß jeder Denker und jeder Praktiker das Ganze als seine Meinung auffassen konnte, also ohne etwas für die Wahrheit selbst zu opfern, ohne sich ihretwegen über sein eigenes Ich erheben zu müssen und ohne von seiner eigenen Befangenheit oder seinen Irrtümern ablassen und ihre Mängel berichtigen zu müssen. In kurzer Zeit wurde dieses erstaunliche Buch in alle Kultursprachen und sogar in die Sprachen mehrerer Kolonialvölker übersetzt. Ein ganzes Jahr hindurch waren die Spalten tausender Zeitungen in allen Teilen der Welt ausgefüllt mit Anpreisungen der Verleger und begeisterten Besprechungen der Kritiker. Billige, mit dem Bild des Autors ausgestattete Volksausgaben wurden in Millionen Exemplaren verbreitet. Die ganze Kulturwelt – zu dieser Zeit schon fast der ganze Erdball – war erfüllt vom Ruhme dieses unvergleichlichen, großen und einzigartigen Mannes.

Niemand widersprach diesem Buch, schien es doch tatsächlich die Offenbarung der ungeteilten Wahrheit zu sein. Hier wurde die Vergangenheit mit so viel Gerechtigkeit beurteilt, die Gegenwart so unparteiisch und allseitig gewertet, die schönere Zukunft so überzeugend und anschaulich der Gegenwart nahegebracht, daß jedermann sagte: „Das ist es, was wir nötig haben, hier ist ein Ideal, das keine Utopie und kein Hirngespinst ist.“ – Der begnadete Schriftsteller begeisterte nicht nur die ganze Welt, er war auch jedermann angenehm.

So erfüllte sich das Wort Christi: „Ich kam im Namen meines Vaters und Ihr nehmt mich nicht auf; ein anderer aber wird in seinem eigenen Namen kommen und diesen werdet Ihr aufnehmen.“  Um aufgenommen zu werden, muß man angenehm sein. Allerdings fragten sich einige gottesfürchtige Männer, die im übrigen das Buch sehr lobten, warum Christus darin nicht ein einziges Mal erwähnt würde. Darauf antworteten andere Christen: „Gott sei Dank! In den vergangenen Jahrhunderten wurde alles Heilige oft genug von unberufenen Eiferern entweiht, so daß heute ein wirklich religiöser Schriftsteller hierin sehr vorsichtig sein muß. Wenn aber der Inhalt eines Buches vom wahren Geist des Christentums, von tätiger Liebe und allumfassender Güte durchdrungen ist, was braucht es da noch mehr?“ Und damit gaben sich alle zufrieden.

(Fortsetzung folgt)

Die Serie

Kurze Erzählung vom Antichrist (04): Der Übermensch

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Der Übermensch

In jener Zeit trat unter diesen Gläubigen ein bedeutender Mann auf – viele hielten ihn für einen Übermenschen, – der weder einen primitiven Geist besaß, noch auch freilich dem Herzen nach ein Kind war. Obgleich er erst dreiunddreißig Jahre zählte, war er durch seinen Genius schon als Denker, Schriftsteller und Sozialreformer berühmt. Trotzdem er um seine große Begabung wußte, unterwarf er sich aus Überzeugung den Geboten des Geistes. So ließ ihn sein klarer Verstand stets auch die Wahrheit des Glaubens erkennen, des Glaubens an das Gute, an Gottes Dasein und an die Offenbarung des Messias. Er glaubte an dies alles, aber er liebte nur sich selbst. Er glaubte an Gott, doch im Abgrund seines Herzens gab er sich selbst unwillkürlich und ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, vor Gott den Vorzug.

Er glaubte auch an das Gute, doch das Auge der Ewigkeit, dem nichts verborgen bleibt, sah, daß dieser Mensch sich vor der Macht des Bösen beugen würde, wenn diese ihn nur zu verführen wüßte – nicht durch Befriedigung von Gefühlen und niederen Leidenschaften, nicht einmal durch die gefährliche Versuchung der Macht – sondern allein dadurch, daß sie seiner maßlosen Selbstliebe schmeicheln würde.

Diese Selbstliebe war aber weder ein instinktiver Drang, noch eine sinnlose Anmaßung. Denn seine außerordentlichen Gaben, seine Schönheit, sein vornehmes Wesen schienen zusammen mit zahlreichen Beweisen von Enthaltsamkeit, Uneigennützigkeit und Wohltätigkeit genügend die ungeheure Selbstliebe zu rechtfertigen, die den Charakter dieses großen Spiritualisten, Asketen und Menschenfreundes bestimmte. Wer hätte ihn anklagen dürfen, daß er in der Fülle dieser Gottesgaben ein sichtbares Zeichen der Auserwählung von oben her erblickte und sich als den Zweiten nach Gott, als den in seiner Art einzigen Sohn Gottes ansah? Mit einem Wort, er hielt sich für Jenen, der in Wahrheit Christus allein ist.

Doch das Bewußtsein seiner hohen Würde war für ihn nicht eine sittliche Verpflichtung gegenüber Gott und der Welt, vielmehr ein Vorrecht gegenüber seinen Nächsten und vor allem gegenüber Christus. Nicht, daß er von Anfang an Jesus gehaßt hätte, nein, er anerkannte dessen messianische Berufung und Würde. In gutem Glauben sah er in Ihm nur seinen großen Vorläufer. Diesem von der Selbstliebe trunkenen Verstand blieb die sittliche Sendung und die einzigartige Erscheinung Christi unfaßbar.

Er urteilte so: „Christus ist vor mir gekommen, ich komme als zweiter. Was aber in der Zeit nachfolgt, ist seinem Wesen nach übergeordnet. Ich komme am Ende der Geschichte, weil ich der vollkommene und endgültige Erlöser bin. Der erste Christus ist mein Vorläufer. Seine Aufgabe war, mir vorauszugehen und meine Erscheinung vorzubereiten.“

Daher bezog der große Mann des einundzwanzigsten Jahrhunderts alles auf sich, was im Evangelium von der Wiederkunft des Herrn gesagt wird. Er erklärte diese Wiederkunft nicht als die Rückkehr des ersten Christus, sondern so, daß nunmehr der Vorläufer durch den wahren Christus ersetzt würde, nämlich durch ihn selbst.
Auf dieser Stufe des Selbstbewußtseins war der kommende Mann noch wenig originell und charakteristisch. Auch Mohammed hatte sein Verhältnis zu Christus ähnlich aufgefaßt. Und Mohammed war gerecht und konnte keiner bösen Absicht bezichtigt werden.

Im übrigen suchte dieser Mensch seine Selbsteinschätzung, mit der er sich über Christus erhob, noch durch folgende Überlegung zu rechtfertigen: „Christus hat durch Predigt und lebendiges Beispiel des Sittengesetzes die Menschheit gebessert. Ich aber bin ausersehen, der Beglücker aller Menschen zu sein, seien sie schon gebessert, seien sie unverbesserlich.

Ich werde allen Menschen das geben, dessen sie bedürfen. Christus hat als Moralist die Menschen nach Guten und Bösen geschieden, ich aber werde sie durch Wohltaten wieder vereinigen, die sowohl die Guten als auch die Bösen nötig haben. Ich werde der wahre Statthalter Gottes sein, der seine Sonne scheinen läßt für Gute und Böse in gleicher Weise, der Regen spendet den Gerechten und Ungerechten. Christus hat das Schwert gebracht, ich hingegen werde den Frieden bringen. Er bedrohte die Erde mit der Furchtbarkeit des Jüngsten Gerichtes, ich aber werde der letzte Richter sein und mein Gericht wird nicht nur Gerechtigkeit, sondern vor allem Gnade offenbaren. Gewiß wird auch mein Urteil gerecht sein, doch ich will nicht vergelten, sondern schenken. Ich kenne jeden, wie er ist, und werde ihm nach seiner Bedürftigkeit zuteilen.“

In dieser erhabenen Stimmung erwartet er, Gott werde ihn ausdrücklich zu neuer Heilstat an der Menschheit berufen. Er erwartet ein sichtbares und leuchtendes Zeichen, das ihm als dem ältesten Sohn, dem geliebten Erstgeborenen Gottes Zeugnis geben werde. Er wartet und nährt seine Selbstliebe durch das Bewußtsein seiner Tugenden und seiner übernatürlichen Gaben. Denn er war ja der Mensch ohne Tadel und der Inbegriff der Genialität.

So erwartet dieser stolze Gerechte die Anerkennung des Höchsten, um die Errettung der Menschheit zu beginnen. — Aber er wird des Wartens müde. Er ist schon dreißig Jahre, doch noch vergehen drei Jahre. Da durchzuckt ihn ein Gedanke wie ein Fieberschauer bis ins Mark der Knochen: „Aber wenn? … Wenn nicht ich es wäre, sondern der andere? … Der Galiläer? … Wenn er doch nicht mein Vorläufer wäre, sondern der Wahre, der Erste und der Letzte: … Aber dann müßt Er ja leben … Wo aber ist Er? … Könnte Er nicht zu mir kommen? … Gleich, hier? … Was würde ich zu Ihm sagen? Ich müßte mich vor ihm beugen wie der einfältigste Christ … Wie ein russischer Bauer ohne Verstand murmeln: ‚Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner Sünden‘, … oder ich müßte mich wie ein Polenweib mit ausgebreiteten Armen vor Ihm zu Boden werfen. – Ich, der erhabene Genius, ich, der Übermensch … Nein, niemals!“

Aus seinem Herzen erhebt sich das Entsetzen und verdrängt die einstige kalte und vernünftige Achtung vor Gott. Es wächst immer mehr an und schlägt endlich in verzehrenden Neid um, der ihn bedrückt und sein ganzes Wesen erfaßt. Ein wütender Haß flammt in ihm auf: „Ich, ich bin es – nicht Er! Er ist gar nicht mehr unter den Lebenden und niemals mehr wird Er unter ihnen weilen, nie ist Er auferstanden! Verwest ist Er, verfault im Grabe wie der letzte …“

(Fortsetzung folgt)

Die Serie

Kurze Erzählung vom Antichrist (03)

(Fortsetzung:  Das Mongolenjoch, Teil2 – zurückweiter)

Sein Nachfolger – Chinese von der Mutter her – verschmolz in seinem Charakter chinesische List und Schlauheit mit der Wendigkeit und Energie des Japaners. Er mobilisierte in Chinesisch-Turkestan eine Armee von vier Millionen Mann. Während das Zun-li-jamyn dem russischen Gesandten vertraulich mitteilte, diese Armee sei zur Eroberung Indiens bestimmt, drang der Kaiser in das russische Zentralasien ein, brachte dort die ganze Bevölkerung in Aufruhr, überschritt in Eilmärschen den Ural und überflutete mit seinen Heeresmassen Ost- und Mittelrußland. Russische Truppen aus Polen und Litauen, aus Kiew und Wilna, aus Petersburg und Finnland wurden in aller Eile alarmiert und zusammengezogen.

Da der Kriegsplan vorher nicht mehr festgelegt werden konnte, und auch der Feind an Zahl außerordentlich überlegen war, konnten die russischen Truppen ihre kriegerischen Vorzüge nur in einer wenigstens ehrenvollen Niederlage erweisen. Die Wucht des Angriffs ließ ihnen keine Zeit für einen geordneten Aufmarsch: Ein Armeekorps nach dem anderen wurde in blutigen und verzweifelten Kämpfen vernichtet. Zwar bezahlten auch die Mongolen diesen Sieg teuer, doch konnten sie ihre Verluste mühelos ersetzen; sie waren im Besitz aller Eisenbahnlinien Asiens, während eine russische Armee von zweihunderttausend Mann, die schon seit langem an der mandschurischen Grenze bereitstand, den mißlungenen Versuch machte, in das geschickt verteidigte China einzubrechen.

Der Kaiser ließ einen Teil seines Heeres in Rußland zurück, der dort die Bildung neuer Streitkräfte verhindern und die sich rasch vermehrenden Partisanenverbände verfolgen sollte, mit drei Armeen aber überschritt er selbst die Grenze Deutschlands. Hier hatte man indessen Zeit gefunden, den Widerstand vorzubereiten: Eine der mongolischen Armeen wurde vernichtend geschlagen. Aber in Frankreich gewann damals eine Partei verspäteter Revanche die Oberhand, und alsbald hatten die Deutschen eine Million Bajonette im Rücken. Die deutsche Armee geriet zwischen Hammer und Amboß. Sie sah sich gezwungen, die ehrenvollen Bedingungen der Entwaffnung anzunehmen, die ihr der Sohn des Himmels anbot.

Die Franzosen triumphierten. Sie verbrüderten sich mit den Gelben und ergossen sich über ganz Deutschland. Rasch verloren sie jedoch jede militärische Disziplin. Der Sohn des Himmels befahl seinen Truppen, die nun lästigen Bundesgenossen zu vernichten; dieser Befehl wurde mit chinesischer Gründlichkeit durchgeführt. In Paris brach ein Aufstand der Kommune aus, und freudig öffnete die Hauptstadt der westlichen Kultur ihre Tore dem Beherrscher des Ostens.

Nachdem der Sohn des Himmels so seine Neugierde befriedigt hatte, wandte er sich nach dem Kanalhafen Boulogne. Unter dem Schutze einer aus dem Pazifik eingelaufenen Flotte wurde dort eine Armada ausgerüstet, welche die mongolische Armee nach Großbritannien übersetzen sollte.

Seine Geldnot benutzten die Engländer, um sich mit einer Milliarde Pfund Sterling von einer solchen Invasion loszukaufen. Im Verlaufe eines einzigen Jahres waren alle europäischen Staaten zu Satelliten des Herrschers Asiens geworden. Nun kehrte er unter Zurücklassung einer aus- reichenden Besatzungsarmee nach dem Osten zurück, um eine Landungsexpedition gegen Amerika und Australien zu unternehmen. Indessen geht Europa einem halben Jahrhundert des neuen Mongolenjochs entgegen.

Das Geistesleben dieser Epoche war durch eine allgemeine Vermischung gekennzeichnet, nämlich eine tiefe und wechselseitige Durchdringung europäischer und orientalischer Ideen. Kurz, es wiederholte sich im großen der antike Synkretismus nach dem Tode Alexanders. — In den äußeren Bezirken des Lebens bestimmten diese Epoche drei Tatsachen: Das Einströmen chinesischer und japanischer Arbeiter verschärfte die soziale Frage erheblich. Ihre Lösung versuchten die herrschenden Klassen durch Kompromisse zu erreichen, ohne das Übel mit der Wurzel zu beseitigen. Gleichzeitig bildeten sich Geheimorganisationen, die sich international verbanden, um die Mongolen zu vertreiben und die Unabhängigkeit Europas wiederherzustellen.

Diese gewaltige Verschwörung, an der sich auch die nationalen Regierungen beteiligten – soweit dies unter der Kontrolle der mongolischen Statthalter möglich war – wurde meisterhaft vorbereitet und gelang glänzend. Zur vereinbarten Stunde begann die Niedermetzelung der mongolischen Soldaten. Auch die asiatischen Arbeiter wurden getötet oder vertrieben. Überall kamen Kader europäischer Armeen zum Vorschein, die bis dahin im geheimen gearbeitet hatten. Die allgemeine Mobilmachung wurde nach einem seit langem bis in alle Einzelheiten vorbereiteten Plan durchgeführt.

Der neue Sohn des Himmels, ein Enkel des großen Eroberers, verließ China, um sich in aller Eile nach Rußland zu begeben. Dort aber wurden seine unzähligen Streitkräfte von der Armee des Vereinigten Europa vernichtend geschlagen. Ihre zerstreuten Überreste kehrten nach Innerasien zurück. Europa war befreit. Die fünfzigjährige Unterjochung durch die Barbaren Asiens war die Folge der Uneinigkeit eigensüchtiger Nationalstaaten, seine große und ruhmreiche Befreiung hingegen der Erfolg einer internationalen Organisation, in der die Kräfte des ganzen Europa sich vereinigt hatten. Diese wichtige Erfahrung hatte daher auch ihre natürliche Auswirkung. Der bisherige einzelstaatliche Nationalismus verlor allgemein an Bedeutung. Zugleich stürzten fast überall die letzten Reste alter monarchischer Einrichtungen zusammen.

Im einundzwanzigsten Jahrhundert war Europa zu einer Union von mehr oder weniger demokratischen Staaten geworden: den Vereinigten Staaten von Europa.

Die Entwicklung der Zivilisation war durch den Einfall der Mongolen und durch die Anstrengungen des Befreiungskampfes gehemmt worden; nun nahm sie einen raschen Aufschwung. Die ewigen Fragen des Menschengeistes nach dem Sinn des Lebens, dem Tod und dem endlichen Schicksal der Welt waren durch die neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiete der Physiologie und Psychologie nur noch verwickelter geworden und blieben immer noch ungelöst. Nur ein einziges, wenn auch negatives Resultat trat offen zutage: der völlige Zusammenbruch des theoretischen Materialismus.

Es konnte einen denkenden Menschen nicht mehr befriedigen, sich das Weltall als ein System kreisender Atome vorzustellen oder das Geheimnis des Lebens sich mechanisch und als Summe kleinster Veränderungen in der Materie zu erklären. Die Menschheit hatte für immer den Zustand der philosophischen Unmündigkeit hinter sich gelassen. Zugleich waren die Menschen auch über den naiven Kinderglauben, der auf die Vernunft verzichtet, hinausgewachsen.

Auch in den Elementarschulen wurde nicht mehr gelehrt, Gott habe die Welt aus dem Nichts geschaffen. Über diese Dinge waren die Auffassungen anspruchsvoller geworden und kein Dogmatismus durfte mehr unter dieses Niveau herabsinken. Aber wenn auch die Masse der denkenden Menschen jeden Glauben verloren hatte, so sahen im Gegensatz dazu die wenigen Gläubigen die Notwendigkeit ein, Denker zu werden. Sie befolgten das Wort des Apostels: „Seid Kinder dem Herzen nach, nicht nach dem Geiste!“

(Fortsetzung folgt)

Die Serie

Kurze Erzählung vom Antichrist (02)

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Mongolensturm

Das Mongolenjoch

Das zwanzigste Jahrhundert nach der Geburt Christi war das Zeitalter der letzten großen Kriege, innerer Zwiste und Umwälzungen. Der bedeutendste dieser äußeren Kriege war aus jener geistigen Bewegung entstanden, die gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Japan aufgekommen war. Man nannte diese Bewegung den Panmongolismus.

In jeder Hinsicht zur Nachahmung begabt, nahmen die Japaner schnell und mit überraschendem Erfolg die äußeren Formen der Kultur Europas an, wobei sie sich auch einige europäische Ideen von untergeordneter Bedeutung zunutze machten. So hatten sie durch Zeitungen und geschichtliche Lehrbücher vom Bestehen des Panhellenismus, Pangermanismus, Panslawismus und Panislamismus in Europa gehört und proklamierten daher ihrerseits die große Idee des Panmongolismus, das heißt der Vereinigung aller Völker Ostasiens unter ihrer Führung. Das Hauptziel dieser Vereinigung sollte der Entscheidungskampf gegen die Fremden, also die Europäer sein.

Unter Ausnützung der Tatsache, daß Europa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts damit beschäftigt war, der Welt des Islams ein Ende zu bereiten, begannen die Japaner mit der Verwirklichung ihres großen Programms. Sie nahmen zuerst Korea ein, später Peking, wo sie unter Mithilfe der fortschrittlichen Partei Chinas die alte Mandschu-Dynastie stürzten und diese durch eine japanische ersetzten. Es gelang ihnen auch, sich rasch mit den chinesischen Konservativen zu verständigen. Diese begriffen, daß es gut sei, von zwei Übeln das kleinere zu wählen, und daß unter Umständen ein Verwandter auch ein Bruder sein kann.
Die staatliche Unabhängigkeit des alten chinesischen Reiches konnte nicht aufrechterhalten werden; entweder mußte China sich den Europäern oder Japanern unterwerfen. Es lag auf der Hand, daß eine japanische Herrschaft in keiner Weise den Charakter des nationalen Lebens verändern könnte, auch wenn dadurch die äußeren Formen der chinesischen Regierung beseitigt würden, die sich ohnedies vor aller Augen als unzulänglich erwiesen hatten — eine Vorherrschaft europäischer Völker hingegen bedeutete schon aus Politik heraus die Unterstützung der christlichen Mission und bedrohte damit die geistigen Grundlagen Chinas.

Der Nationalhaß der Chinesen gegen die Japaner stammte aus einer Zeit, in der beiden Völkern die Europäer noch unbekannt waren. Mit deren Auftreten in Ostasien mußte diese alte Feindschaft zu einem Bruderzwist und schließlich sinnlos werden. Die Europäer waren völlig Fremde und nur Feinde. Ihre Vorherrschaft konnte in keiner Weise der Eigenliebe der Rasse schmeicheln. In den Händen Japans erblickten die Chinesen hingegen die süße Lockspeise des Panmongolismus, der zugleich in ihren Augen auch die harte Notwendigkeit rechtfertigte, sich äußerlich europäisieren zu müssen.

Ohne Unterlaß sprachen die Japaner auf sie ein: „Eigensinnige Brüder, versteht doch, daß wir die Technik der Hunde aus dem Westen übernehmen, nicht, weil wir eine Vorliebe für sie haben, sondern, um sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Wenn Ihr Euch mit uns vereinigt und unserer Führung folgt, werden wir die weißen Teufel nicht nur bald aus Asien verjagt haben, wir werden darüber hinaus ihr eigenes Gebiet erobern und erst das wahre Reich der Mitte begründen, das die Vorherrschaft über die ganze Welt haben wird. Ihr habt recht mit Eurem Nationalstolz und Eurer Verachtung der Europäer, aber es ist nur zu Eurem Schaden, wenn Ihr diese Empfindungen nur durch Träumereien nährt, statt die notwendige Tatkraft zu entfalten. Wir, die Euch in dieser Hinsicht vorausgegangen sind, wir zeigen auch Euch den Weg des gemeinsamen Interesses.

Seht doch, was Euch Eure Politik genutzt hat, jene Politik der Selbstzufriedenheit und des Mißtrauens gegen uns, Eure Freunde und natürlichen Verteidiger! Es hat wenig dazu gefehlt, dass Rußland und England, Deutschland und Frankreich China zur Gänze untereinander aufgeteilt hätten. Eure mit dem Mute eines Tigers vollführten Anschläge haben nur die Wirkung des so kraftlosen Endchens eines Schlangenschwanzes gezeigt.“

Einsichtsvolle Chinesen fanden solche Überlegungen für begründet und auf diese Weise festigte die japanische Dynastie ihre Macht. Sie arbeitete naturgemäß vor allem am Aufbau einer mächtigen Armee und einer starken Flotte. Der größte Teil der japanischen Kriegsmacht wurde nach China verlegt und diente dort als Kader für das neue gewaltige Heer. Die japanischen Offiziere, die das Chinesische sprachen, waren ungleich erfolgreicher in der Ausbildung als die nunmehr entlassenen europäischen Instruktionsoffiziere. Die zahllose Bevölkerung Chinas mit der Mandschurei, der Mongolei und Tibet stellte ein unerschöpfliches Kraftreservoir zur Verfügung.
Nach kurzer Zeit schon konnte der erste Sohn des Himmels aus der japanischen Dynastie die Waffen des neu erstandenen Kaiserreiches siegreich erproben. Er vertrieb die Franzosen aus Tonking und Siam, die Engländer aus Birma und vereinigte ganz Indo-China mit dem Reich der Mitte.

(Fortsetzung folgt)

Die Serie

Kurze Erzählung vom Antichrist (01)

Wladimir Solov’ev

Kurze Erzählung vom Antichrist

in Drei Gespräche (Einleitung),  erschienen 1899

Wladimir Solov’ev (1853–1900) war russischer Philosoph, Publizist und Dichter.

Die „Kurze Erzählung vom Antichrist“ ist eine dramatische „ökumenische Apokalypse“. Die drei großen Flügel der Christenheit finden im Angesicht der Herrschaft des personifizierten Bösen zueinander. Katholiken (Papst Petrus II.), Orthodoxe (Starez Johannes) und die Protestanten (Professor Pauli) überwinden in einer endzeitlichen Konfrontation, die sich an die Johannesapokalypse der Bibel anlehnt, ihre Trennungen. Auch die Juden stellen sich dem Bösen entgegen. Der Autor wurde nach dem Erscheinen dieses Textes von seinen eigenen nationalreligiösen orthodoxen Studenten für verrückt erklärt. Sie irrten sich: Entstanden war ein Text der Weltliteratur, der bis heute nicht nur Christen bewegt. Schonungslos wird die Käuflichkeit der meisten Menschen – auch der religiösen – offen gelegt.

Vorwort

(Wladimir Solov’ev, 27. Februar 1900)

Diese Erzählung rief in der Gesellschaft wie in der Presse nicht wenig Missverständnisse und Fehldeutungen hervor, deren Hauptursache ganz einfach die unzureichende Kenntnis der im Wort Gottes und in der kirchlichen Tradition enthaltenen Hinweise auf den Antichrist ist.

Die innere Bedeutung des Antichrist als des religiösen Usurpator, der durch ‚Raub‘ und nicht durch eine geistige Tat die Würde des Sohnes Gottes erwirbt, seine Verbindung mit dem Lügenpropheten und Thaumaturgen, der die Menschen durch tatsächliche und durch lügenhafte Zeichen verführt, die dunkle und im besonderen Sinne sündige Herkunft des Antichristen selbst, der durch Mitwirkung der Macht des Bösen sich die äußere Stellung des Weltmonarchen erwirbt, der allgemeine Ablauf und das Ende seiner Tätigkeit, schließlich einige für ihn und für den Pseudopropheten charakteristische Einzelheiten wie zum Beispiel, daß dieser ‚Feuer vom Himmel fallen läßt‘, die Tötung der beiden Zeugen Christi und die Ausstellung ihrer Leiber auf den Straßen Jerusalems und so weiter – all das findet sich im Worte Gottes und in der ältesten Überlieferung.

Für die Verbindung der Ereignisse und auch für die Anschaulichkeit der Erzählung wurden Einzelheiten verwendet, die entweder auf historischen Erwägungen begründet oder der Einbildungskraft entsprungen sind. Zügen dieser Art – etwa den zum Teil spiritistischen, halb ins Gebiet der Taschenspielerkunst gehörenden Stückchen des Weltreich-Magiers mit unterirdischen Stimmen, Feuerwerk und so weiter – messe ich natürlich keine ernsthafte Bedeutung bei und konnte von meinen ‚Kritikern‘ wohl eine gleiche Betrachtung dieser Dinge erwarten. Was das zweite, sehr wesentliche Moment meiner Erzählung betrifft – die Charakteristik der drei personifizierten Bekenntnisse auf dem ökumenischen Konzil –, so konnte sie nur von denjenigen bemerkt werden, die der Geschichte und dem Leben der Kirche nicht fremd gegenüberstehen.

Der in der Offenbarung gegebene Charakter des Pseudopropheten und seine dort in aller Klarheit angezeigte Bestimmung – die Menschen zugunsten des Antichrist zu verblenden – machen es notwendig, ihm allerlei Stückchen der Zauberei und der Taschenspielerkunst zuzuschreiben. Zuverlässig ist bekannt, „daß sein Hauptwerk ein Feuerwerk sein wird“: „Und tut große Zeichen, daß er auch machet Feuer vom Himmel fallen vor den Menschen“ (Apokalypse des Johannis; 13,13). Die mechanisch-magische Technik dieser Vorgänge können wir nicht im voraus erkennen, sondern nur davon überzeugt sein, daß sie in 200 bis 500 Jahren die heutige weit übertroffen haben wird; was aber bei einem solchen Fortschritt einem solchen ‚Wundertäter‘ möglich sein wird – darüber möchte ich kein Urteil abgeben. Einige konkrete Züge und Einzelheiten meiner Erzählung wurden den wesentlichen und unbedingt glaubwürdigen Angaben nur zum Zweck der Veranschaulichung beigefügt, um selbige nicht als bloße Schemata dastehen zu lassen.

In allem, was ich über den Panmongolismus und den asiatischen Überfall auf Europa sage, muß man gleichfalls das Wesentliche von den Teilen unterscheiden. Doch auch das zentrale Faktum besitzt hier natürlich nicht die absolute Glaubwürdigkeit, wie sie der künftigen Erscheinung und dem Schicksal des Antichrist und seines Pseudopropheten zukommt. In der Darstellung der mongolisch-europäischen Beziehungen ist nichts direkt der Heiligen Schrift entnommen, wenn sich hier auch für vieles ausreichende Anhaltspunkte finden lassen. Im allgemeinen ist diese Geschichte eine Kette von Möglichkeiten mit gewisser Wahrscheinlichkeit, die auf gegeben Tatsachen beruhen. Ich persönlich glaube, daß diese Wahrscheinlichkeit der Sicherheit recht nahe kommt. Das scheint nicht bloß mir so, sondern auch anderen gewichtigeren Persönlichkeiten.

Ich mußte den Vorstellungen vom künftigen Mongolensturm verschiedene Einzelheiten hinzufügen, um der Erzählung einen Zusammenhang zu geben. Für diese kann ich mich nicht persönlich verbürgen. Vor deren Mißbrauch habe ich mich gehütet. Es war mir wesentlich, das bevorstehende furchtbare Aufeinandertreffen zweier Welten so real wie möglich darzustellen und eben dadurch die dringende Notwendigkeit des Friedens und der aufrichtigen Freundschaft zwischen den europäischen Nationen deutlich vor das Bewußtsein zu rücken.
Wenn ich auch das Ende aller Kriege vor dem Eintreten der endzeitlichen Geschehnisse nicht für möglich halte, so sehe ich doch in der engsten Annäherung und der friedlichen Zusammenarbeit aller  christlichen  Staaten und Völker einen nicht bloß möglichen, sondern notwendigen und sittlich verpflichtenden Weg zur Rettung der christlichen Welt vor niederen, elementarischen Gewalten, die sie zu verschlingen drohen. …

Die historischen Kräfte, von der die Masse der Menschen beherrscht wird, müssen noch aufeinander treffen und sich vermischen, bevor diesem sich selbst zerfleischenden Tier ein neues Haupt erwächst — die weltvereinigende Kraft des Antichrist, der ‚laute und große Worte sprechen‘ (Ap.; 13,5) und zur Zeit seines endgültigen Erscheinens die glänzende Hülle des Guten und der Wahrheit über das Geheimnis der äußersten Gesetzlosigkeit werfen wird, um – wie die Schrift sagt –, wo es möglich wäre, auch die Auserwählten zu verführen zum großen Abfall (Mk; 13,23). Im voraus auf diese trügerische Maske hinzuweisen, unter der sich der Abgrund des Bösen verbirgt, war meine höchste Absicht, als ich dieses Buch verfaßte.

Ich empfinde, daß mein Werk auch in dieser verbesserten Form verschiedene Mängel hat, aber ich spüre auch, daß die Gestalt des bleichen Todes nicht mehr fern ist, die mir in stiller Weise rät, den Druck dieses Buches nicht auf unbestimmte und unsichere Zeit zu verschieben(1). Wird mir noch Zeit für neue Arbeiten geschenkt, so auch für die Vervollkommnung von früheren. Wo nicht, so habe ich doch in hinreichend klaren, wenn auch kurzen Zügen auf den bevorstehenden Ausgang des Kampfes zwischen Gut und Böse hingewiesen, und ich lasse die kleine Arbeit hinausgehen mit dem dankbaren Gefühl einer erfüllten Pflicht.

(Fortsetzung folgt)

Die Serie


(1) Solovjev starb am 31. Juli 1900.
OD: Vladimir Solovjev starb am 31.07.1900, erst 47jährig. –  Er warnt hier zwar nicht aus vordergründig ökologischen Motiven, aber immerhin erkannte er schon damals, daß sich was anbahnt(e), was größer war, als die bisherigen Staatenkriege. – In Worten Alexander Herzens (gest. 1870) sinngemäß: „Ich befürchte für das nächste Jahrhundert einen Dschingis Khan mit einem Telegrafen.“