Seit Jahren reden Politiker, Ärzte, Ethiker, Kirchen auf mich ein: Organspende sei eine gute Sache, sei Bürger- und Christenpflicht. Niemand sollte abseits stehen. Mit der Organspende könne man nach dem eigenen ein fremdes Leben retten. Gibt es eine beglückendere Aussicht, einen solidarischeren Akt?
Die Deutschen wollen nicht hören. Die Zahl der posthumen Spender bewegt sich einigermaßen stabil bei rund 1.300 Menschen pro Jahr. Nun, im ersten Halbjahr 2011, soll sie sogar gefallen sein, um über zehn Prozent. Gleichzeitig sterben jährlich rund 1.000 Patienten, die zu lange auf der Warteliste für Transplantationen standen. Ist also ein skrupelloser Egoist, wer auf der Unversehrtheit des eigenen Leibes besteht, bis dieser von selbst zu Staub zerfallen ist? Sind wir alle, die wir nicht spenden wollen, schuld am Tod der Tausend?
„Ich bin hier Kind der Mehrheit“
Mir fällt das Geständnis nicht leicht. Ich bin hier Kind der Mehrheit. Ich kann nicht anders. Nichts habe ich einzuwenden gegen die Lebendspende, zu ihr wäre ich bereit. Ich möchte aber nicht zerteilt und zerstückelt werden, sobald Großhirn, Kleinhirn, Hirnstamm erloschen sind. Ich möchte nicht bei schlagendem Herzen, pochendem Puls aufgeschnitten werden, damit man mir Herz, Niere, Leber entnehmen und einem andernorts ebenso atmenden, schlagenden Leib einpflanzen kann, dessen Hirn noch messbare Signale aussendet. Bin ich feige, töricht, unaufgeklärt?
Erst 1968 wurde der Hirntod als Tod des ganzen Menschen festgeschrieben. Seitdem gibt es jene lebenden Leichen, jene untoten Toten, derer die Medizin bedarf. Etwa acht bis zehn Prozent der Patienten, die auf Intensivstationen sterben, kommen als Organspender in Betracht. Bei ihnen muss der Hirntod vor dem Herztod eintreten. Nur so ist gewährleistet, dass die Organe frisch bleiben. Bis zu sieben Stunden muss ein möglicher Organspender nach dem Hirntod weiter versorgt werden. Solange schlägt das Herz, funktioniert der Kreislauf, atmet der Mensch oder wird er beatmet. Erst das Messer des Chirurgen trennt den Lebensfaden ganz durch.
Für den Hirntod spricht seine vermeintlich unbezweifelbare Aussagekraft: Der Blick auf die Geräte, auf den Monitor, auf das Elektro-Enzephalogramm soll genügen, um zu wissen, hier ging ein Leben zu Ende. Das EEG spiegelt aber lediglich die Aktivität einer drei Millimeter dünnen Großhirnrinde wider; die Null-Linie gibt keine Auskunft darüber, was in tiefer liegenden Hirnschichten vor sich geht oder eben nicht. Es gab schon Menschen, die ihren eigenen Hirntod überlebten; unlängst gelang dies einer Frau im kanadischen Quebec.
Der früh verstorbene Münchner Ethiker Herbert Huber schreibt: „Wir wissen nicht, was in einem hirntoten Menschen vorgeht, ob er noch Erlebnisse irgendwelcher Art hat und/oder ob in ihm seine Person mit all ihren Erinnerungen, Anlagen, Plänen noch weiter mit sich beschäftigt ist (…). Es ist also nicht das ,Ausschlachten‘ des Hirntoten das primäre Problem, sondern die technisch manipulierte Hinauszögerung des Sterbeprozesses. Wir muten der hirntoten Person damit möglicherweise (…) eine stumpfe Qual des Sterben-Wollens-und-nicht-Dürfens zu. Und wir verlängern diese Qual und steigern sie möglicherweise durch den Explantationsprozess. Wieso steigt der Blutdruck bei der Explantation dramatisch an? Wieso verabreicht man Narkosemittel?“
Was bedeutet es, Mensch zu sein?
Auf der Frankfurter Buchmesse sah ich ein Sachbuch mit dem Titel: „Wir sind unser Gehirn“. Das stimmt nicht. Es ist gerade kein angemessener Blick auf den Menschen, wenn man in ihm ein Wesen sieht, das vom Gehirn zusammengehalten wird, ja dessen Hirn ihn ausmacht. So wird ein bedenklicher Trend befördert – der Trend, den Menschen anhand seiner Leistungskraft, seiner intellektuellen wie physischen Potenziale zu definieren. Was folgt daraus für mit arg eingeschränkten kognitiven Kapazitäten lebende Menschen? Was für jeden von uns, dessen zerebrale Kompetenz vielleicht auch einmal schleichend zu Ende geht, ohne dass wir deshalb sterben wollten?
Es ist an der Zeit, offen und öffentlich darüber nachzudenken, was den Mensch zum Menschen macht: sein Hirn oder sein Herz, seine Qualitäten oder sein Dasein, seine Würde oder seine Leistung. Solange das nicht geschehen ist, kann ich meinen pochenden, atmenden Leib nicht vermachen. So leid es mir tut.