Moralismus oder Moralität

Ich sprach vom „Moralismus“ –, daß man fälschlicherweise immer die Moral an den Anfang setzte, die Verhaltensweisen als das Entscheidende ansah, das Gute rangieren ließ vor der Wahrheit, daß sehr viel Kitsch einzog, daß der Wert und die Notwendigkeit des Schönen allzu gering geachtet wurden: man glaubte, all dies würde 1962 überwunden.

„Aha“, sagten viele, „endlich kommt die Zeit einer Vertiefung. Endlich wird die Gemeinde, werden die Gläubigen eingeführt in die Tiefen der Wahrheit. Die Primitivität hört auf, ebenso der Pharisäismus, der falsche Moralismus.

Es wird im echten Sinne Jesu humaner werden. Die Kirche erneuert sich, so daß es sich besser leben und freier atmen läßt im Innenraum der Kirche. Man wird fragen und miteinander reden können über die Geheimnisse des Glaubens. Die Sperrmauer für das Denken wird fallen. Man wird wieder denken und endlich denken dürfen.“ Das alles wähnte man. Und der böse Feind hat die Mißstände im Raum der Seelsorge außerordentlich geschickt genutzt, um in den Gläubigen die Wahnvorstellung zu erzeugen, jetzt hören die Mißstände auf.

Das war natürlich eine Wahnvorstellung; denn statt die Mißstände zu beseitigen, brach nun im ganzen offiziellen Bild der Kirche, im ganzen Innenraum der Kirche, von oben her die Katastrophe ein: die Leugnung des Glaubens, die Verwässerung, der falsche Ökumenismus, die „Beitrags“-Ideologie, die falsche, antichristliche Ideologie vom allgemeinen, humanen Fortschritt, vom kollektiven Menschheitsfortschritt, kollektiver Menschheitsbesserung usw., usw.

Auf dem Vehikel eines falschen Wahns ritt das Verderben. Und das konnte so geschehen, weil sich viele Menschen bedrückt fühlten durch die geistige Unterernährung, durch eine verbreitete Verdummung und durch einen verbreiteten Pharisäismus. Dafür gibt es massenweise Beispiele und selbstverständlich, wenn ich das sage, weiß ich, daß es auch Ausnahmen gab.

Selbstverständlich war das nicht durchweg so, aber weithin so, und wäre das nicht so gewesen, hätten die Zerstörer, die lauernden, keine Chance gehabt. So hatten sie eine Chance. Wenn also die Wende kommt, werden wir diese falschen Bedingungen ausmerzen müssen. Ich habe begonnen, planmäßig darüber zu predigen, wie wir uns katholisch reinigen müssen, im katholischen Sinne unsere Grundeinstellung ändern, den falschen Moralismus ausschalten müssen.

Und ich habe auch schon „Über die Schönheit“ gesprochen. Moralismus ist nicht dasselbe wie Moralität. Selbstverständlich sind wir für die Moral das ist eine Binsenweisheit.

Aber am Anfang steht die Wahrheit. Und dann kommt die Wahrheit, und dann kommt drittens die Wahrheit mit ihren Inhalten, dann kommt lange nichts, und dann kommt wieder die Wahrheit, dann kommen einige Pünktchen –und dann kommt erst die Moral und die Bemühung darum von selber.Denn das Gute ist das, was der Wahrheit gemäß ist. Und wenn Du die Wahrheit geschnappt hast, wirst Du automatisch nach dem Guten streben, ebenso aber auch nach dem Schönen, in Wahrheit Schönen.

Und auch da ist eine ausgesprochene Katastrophe zu verzeichnen, gerade seit dem vorigen Jahrhundert. Das hängt mit dem Einbruch der modernen Technik zusammen, die selbstverständlich ihrer ganzen Anlage und den Voraussetzungen des Menschengeistes gemäß unbewältigt bleiben mußte und immer unbewältigter bleibt.Es ist völlig falsch zu sagen, „sie hätte auch ihr Gutes gebracht“. Im Einzelfall, im Detail sicher, wenn man an medizinische Fortschritte in gewissem Rahmen und unter partiellen Aspekten denkt, gewiß, aber aufs Ganze gesehen hat die industrielle Entwicklung, die Bildung der Industriegesellschaft, die Bildung der Massenmedien und die Bildung der Masse eine fürchterliche seelische Zerrüttung, geistige Reduzierung und Einebnung und eine Verkümmerung des Denkens, eine andauernde Ausschaltung der Elite mit sich geführt.

Wir haben keine geistige Elite und keine geistige Führung mehr. Es ist ein vom Menschlichen her gesehen trostloses Bild, das sich bietet. Und ich sage, gerade mit der Industriegesellschaft, mit der Massenflucht vom Lande in die Stadt usw. hängt zusammen, daß in ganz großem Umfange der Kitsch seinen Einzug hielt. Man kann sagen, das neunzehnte Jahrhundert ist das Geburtsjahrhundert des allgemeinen Kitsches. Damals kamen Gassenhauer auf, Schlager, die Satiren. Von daher trat das Volkslied immer mehr zurück. Mit Gewalt versuchte man immer wieder, altes Brauchtum zu pflegen. Aber das hat oft etwas Krampfhaftes und Gewaltsames an sich und schlägt nicht durch.

An die Stelle von alldem ist banale Sinnlosigkeit und rührselige, falsche Sentimentalität getreten, Lebenslüge. Die Kitschromane kamen damals auf, die Küchenlieder und die falschen, bösen Darstellungen heiliger Gegenstände und Personen. Ich sage mit Absicht „falsch und böse“, nicht der ursprünglichen Absicht der Urheber nach böse, aber in ihrer Wirkung ausgesprochen böse.

Was die Darstellungen Jesu anbetrifft, so haben die einen Schaden angerichtet; man wird Jahrzehnte brauchen, um ganz langsam und planmäßig und mit intensiver Mühe diesen ungeheuren Schaden aus den Seelen auszurotten. Denn ein falsches Bild kann in seiner verheerenden Wirkung überhaupt nicht übertrieben werden. Was, meine Freunde, ist Schönheit? Zweifellos hat die Kunst mit der Schönheit zu tun. Aber was ist wahre Kunst, und wann stellt sie in gültiger Weise Schönheit dar?

Was ist überhaupt in sich Schönheit? Ich habe es schon des öfteren gesagt. Es ist der Glanz des Wesens, also das Durchleuchten dessen, was in der Tiefe des Menschen und aller Dinge, in der Tiefe der Welt und des Seienden ist. Der Gedanke Gottes, der im Urgrund leuchtet, der wird transparent, durchsichtig. Man erkennt das Wesen der Welt und das Wesen der Dinge, Also: Kunst ist die Mitteilung, Sichtbarmachung, Hörbarmachung des Urgegebenen, des unaussprechlich Tiefen, des Unsagbaren. Kunst bringt zum Vorschein wahren Wert und das, was am Anfang gedacht wurde und was im ewigen Wort enthalten ist, aus dem alles hervorgeht. Das ist wahre Kunst.

Zweifellos schildert nun Kunst auch das Gebrochensein, Vernichtung, das Zerreißen, fürchterliches Menschenschicksal. Die Kunst schildert den häßlichen Menschen und eine häßliche Landschaft – wahre Kunst. Schildert sie deshalb die Häßlichkeit als solche? – Sie läßt sich nicht schildern, denn die Häßlichkeit als solche, wie das Böse, das Schlechte, das Falsche in sich, ist gleich Nichts. Das Nichts haftet dem Seienden an. Häßlichkeit haftet also dem Seienden an, d.h. Häßlichkeit bricht das ursprüngliche Wesensbild, Häßlichkeit konterkariert das Aufleuchten des Wesens.

Aber wenn sie in gültiger Weise von der Kunst zum Ausdruck gebracht wird, d.h. nicht die Häßlichkeit als solche, sondern das häßliche Ding, die häßliche Sache, den häßlichen, den zerstörten, den gebrochenen Menschen, dann wird man in der Gebrochenheit: um so stärker wissend werden von dem, was da verlorengegangen ist. Im Verlust wird das Verlorene deutlicher.

Gerade im Verlust, und jeder weiß es, wird auf einmal das Wesen dessen, an das man gewohnt war, viel offenbarer. Und darum wird auch durch die Kunst, wenn sie die Fragwürdigkeit, die Bedrohtheit, die Verlorenheit, die Ausgeliefertheit des Menschenlebens, das schwere, tragische Schicksal, die tragischen, unausweichlichen Verflechtungen, in die ein Mensch geraten kann, schildert, gerade das deutlich, was da bricht und zugrunde geht. Und es leuchtet gerade durch das Gebrochene hindurch das Ursprüngliche, das Wesenhafte und Seinshafte um so deutlicher. In der Sehnsucht und in der Wehmut, die dadurch ausgelöst wird, wird das wache Wissen von dem eigentlichen Sein und Wesen um so stärker.

Denken Sie nur an die realistischen Kreuzigungsdarstellungen. „Keine Schönheit ist an Ihm, keine Gestalt“, heißt es in den Prophetien. Und gerade wenn wir Ihn so sehen, den Inhaber, den Ur-Inhaber der Schönheit, des Lebens, sterbend entstellt, dann wird beim Anblick des Entstelltseins die wehmütige Sehnsucht wach, und wir werden im Mitleiden wissend.

Das ist die Aufgabe der Kunst. Dann ist sie keine Lebenslüge. Dann kommt sie aus der Wahrheit und Wirklichkeit, aus der Tiefe und aus dem Anspruch der Tiefe. Und sie schafft Leiden und Mitleiden aus diesem geweckten Anspruch nach dem Leuchten des Ursprünglichen. Das ist Sinn der Kunst, sei es im Roman, sei es im Gedicht, sei es im Bild, sei es in der Statue.

Und sehen Sie: Schönheit – Glanz des Wesens. Ein Gesicht zu sehen, das Geist, Bedeutung, Feuer, Leidenschaft, Kühnheit, Überwindung, Sieg ausstrahlt, ein solches Gesicht zu sehen ist etwas, was einem den Rücken wieder strafft, was einem wieder Lebensmut gibt. „Ich habe ein Gesicht gesehen“ – ich habe einen Menschen gesehen, in dem der Genius des Ewigen, des Göttlichen durchscheint.

Die Kunst, die menschengesichtige Darstellung hat die Aufgabe, das zum Ausdruck zu bringen und sei es in seiner Gebrochenheit und Entstelltheit, um das Mitleiden zu wirken, durch Mitleid wissend zu werden. Aber wie ist so ein Gesicht? Ich habe schon gelegentlich darüber gesprochen. Sehen Sie, wenn ich mir so manche Fotografie eines großen Künstlers in seiner Jugend anschaue, dann erschrecke ich manchmal über das scheinbar flache, unbedeutende Gesicht. Man ist geradezu schockiert. Das Gesicht scheint nichts Besonderes zum Ausdruck zu bringen.

Dann sieht man das Altersbild – zerfurcht –und dann auf einmal entdeckt man die Bedeutung dieses Menschen. Auf einmal bricht durch, wie aus einer verblühenden Rose, der ganze große Glanz dessen, was vorher verborgen war – so ist es oft im Gesicht –, oder der erste geniale Glanz eines jugendlichen Antlitzes wird durch die banalisierende, einebnende, verödende Gewalt des Alltags verspießert und glatt und bedeutungslos. Wie oft erlebe ich das in meinen seelsorglichen Jahren!

Es ist mir immer ein besonderes Entsetzen, ein Schock, wenn ich ursprünglich verheißungsvolle, junge Gesichter plötzlich sehe im Zeichen von Null und Nichtig. Da ist alles dahin. Da ist alles in Gewohnheit, eingeebnet, und die Eltern kommen jubelnd zu mir und sagen: „Ach, ich habe ihnen eine freudige Mitteilung zu bringen: Endlich ist sie bzw. er anständig geworden“ usw., usw. Aber ich bin ganz und gar nicht jubelnd und froh, sondern total traurig und denke: „Damals, als noch das Chaos waltete, da war noch Chance, denn aus dem Chaos können Sterne geboren werden. Aber jetzt ist er glatt, poliert, rund, brav, alltäglich, langweilig, pflichttreu.“

Nun sagt die Frau Mama: „Nun ja, in die Kirche geht er ja nicht und religiös ist er nicht weiter engagiert, aber Hauptsache anständig.“ – O weh! Das ist die Niederlage auf den Katalaunischen Feldern. Eben nicht „Hauptsache anständig“, Hauptsache Feuer und Leidenschaft. Und man erlebt es hier und da, daß im Alter der verblichene Glanz eines jungen Gesichtes wieder durchkommt durch die Kette erfochtener Siege und gewonnener Schlachten, durch die Gewalt des Leidens. Und das Leiden ist oft ein großer Künstler, welcher den Marmorstein bebaut und behaut. „Bildhauer Gott, schlag zu! Ich bin der Stein“, läßt Konrad Ferdinand Meyer in einem Gedicht den Michelangelo sagen.

Sehen Sie, das ist Kunst! Und wir werden es vertiefen, weil das in einer Predigt nicht getan ist, daß dadurch nicht ein anderes Bewußtsein erzeugt wird, aber das Bedürfnis bei Ihnen, ein anderes Bewußtsein und einen anderen Anspruch in sich hervorzubringen. Sehen Sie, gerade die Darstellungen im vorigen Jahrhundert, die sogenannten künstlerischen Darstellungen Jesu, das waren Serienherstellungen, Klischeeherstellungen, weithin in Fabriken hergestellt, die Buddhas und Herz-Jesu Bilder und Marienbilder in Serienproduktion verkauften. Die Buddhas kamen nach Indien, und europäische Reisende nahmen sie dann von Indien wieder mit nach Hause im Wahn, sie hätten indische Kunst mitgebracht, In Wirklichkeit war es Made in Germany.

Das war etwas ganz Entsetzliches: Diese Klischeebilder waren nach Art eines Anspruches gefertigt, wie er bei den sogenannten Miss-Wahlen zum Ausdruck kommt, wenn die Miss Germany oder die Miss Universum gewählt wird: nach Ebenmäßigkeit genau gemessen, glatte Haut, wohl proportionierte Züge usw. – aber Nullgesichter. (Übrigens nicht alle  solche Schönheitsköniginnen haben Nullgesichter. Das weiß ich auch). Aber danach wird nicht gesehen, ob der Geist sprüht oder nicht, sondern vor allem glatt müssen die Gesichter sein.

Und diese Vorstellung, so müsse man Jesus darstellen – oval, glatt, mit einem Nullgesicht, mit einem wohlgeformten Bärtchen–, hat in den Seelen vieler schon von Jugend an unbewußt die Vorstellung hervorgerufen, so weibisch – nicht weiblich (weiblich ist etwas Herrliches), sondern weibisch –, so nichtssagend, so unmännlich, so ohne Ausstrahlung muß Jesus wohl ausgesehen haben.

Und das lockt natürlich keinen gesunden Hund hinterm Ofen hervor. Und darum sind gerade gebaute Menschen, rechtwinklig gebaute junge Menschen oft, sie wissen selbst nicht warum, ohne Interesse für diese Bereiche, weil unbewußt in ihnen, wenn sie „Jesus“ hören, dieses schaurig nichtssagende, feminine Gesicht vor ihnen auftaucht. Was das für einen Schaden angerichtet hat, ist unabsehbar – vom Jesusknaben ganz zu schweigen, diesem pathologischen Gebilde von einem Jungen mit dem Nachthemdchen, mit einem süßen Mädchenangesicht, eine Palme tragend.

Eltern, die so einen Jungen in die Welt setzen, werden wohl mit Schrecken alsbald dieses Gebilde zum Nervenarzt bringen und fragen, ob da noch was auszurichten wäre. Und das bietet man dann als Vorbild für Bravheit Kindern an, die von ihrem gesunden Instinkt her spielen und raufen und sportlich sein wollen usw. und denen es nicht darauf ankommt, mit wilder Gebärde Grenzen zu überschreiten, was mit Sünde rundherum nichts zu tun hat. Bravheit ist in sich kein moralischer Wert, sondern für sich gesehen ein Element des Langweiligen. Das alles muß eliminiert werden!

Und das war jahrhundertelang nicht so. Da gab es noch keine primitiven Menschen. sondern nur einfache Menschen. Der einfache Mensch ist übrigens etwas Herrliches – herrlich. Aber der primitive Mensch ist etwas Schreckliches. Schauen Sie sich die Kathedralen des Mittelalters an, schauen Sie sich die Gesichter des Christus an, in Stein gehauen! Was ist das für eine Gewalt, die aus diesen Gesichtern herausstrahlt, die Ikonen, die Christusgesichter in der Apsis der Basiliken usw., usw. Durch Jahrhunderte, in der Frühzeit und im hohen Mittelalter und noch bis in die beginnende Neuzeit hinein, war die wahre Kunst selbstverständlich für jeden Menschen da. Sie sangen Volkslieder. Und die Volkslieder sind Elemente höchster Kunst, im dichterischen wie im musikalischen, bis dann auf einmal im neunzehnten Jahrhundert alles zusammenbrach und man von Seiten der Hirten und Lehrer und Priester meinte, das sei ja alles gar nicht so wichtig, Hauptsache sei das fromme Herz, das durch solchen Anblick zu Anmutungen bewegt würde.

Welch ein Irrtum, welch ein grausamer, zerstörerischer Irrtum, der den Massenabfall mitbewirkt hat! Nun werden einige kommen und sagen: „Na, das ist aber immer noch besser als diese modernen Verrücktheiten, nicht wahr, wo man z.B. einen Orang-Utan am Kreuz sieht usw. und wo man überhaupt nicht weiß, wo man dran ist.“ Ich möchte das bezweifeln. Wenn einer eine moderne Verrücktheit sieht, weiß er wenigstens gleich, es ist verrückt. Aber wenn einer Kitsch sieht, meint er, das sei doch immerhin schön. Und vor allem wenn es bunt ist und strahlt und drum herum ein Kranz von Glühbirnen ist, so wie im Jahrmarkt, dann muß es doch schön sein, nicht wahr, dann ist es doch immerhin etwas Anmutendes. Das ist falsch. Das ist kein Vorwurf. An niemanden ist das irgendein Vorwurf, sondern es ist eine Diagnose. Und wir müssen uns hier wandeln.

Vieles muß gewandelt werden, gerade in unseren Reihen, damit, wenn die Stunde X schlägt, der Heilige Geist in der zusammengeschrumpften Kirche eine Phalanx hat solcher, die bereitstehen, nun wirklich etwas Zukunftsträchtiges zu bauen vom Geiste her. Denn der Geist ist das Senfkorn, das alles durchdringen muß, der Sauerteig, der alles durchsäuern muß, der Keim, der wachstumsfähig ist – nicht zu verwechseln mit dem Sauerteig des Schlechten.

Wenn ich nämlich das Gute, das Wahre, Wesenhafte mit dem Schlechten und Falschen vermische, wird immer das Falsche siegen. Ein Tröpfchen Gift vergiftet zwei Liter gute Suppe. Nicht die Mischung mit dem Schlechten, sondern die  Kraft, das vorgegebene Material, das in sich gut ist, ganz zu erneuern und zu verwandeln und zu durchdringen, das ist die Aufgabe im Wahren, im Guten und –ohne Dispens im Schönen. AMEN

Auszug aus einer Predigt von Pfarrer Hans Milch, 1982

Der Herausgerufene bist DU

Sie werden sich erinnern, dass ich gesagt habe, die neunundneunzig Gerechten sind ein Phantom. Diese Bezeichnung ist vom Herrn ironisch gemeint. Es gibt nicht die neunundneunzig Gerechten, die der Buße nicht bedürfen. Das verlorene, das verirrte Schaf im Dornengestrüpp: das bist Du und das bin ich! Wir müssen umdenken. Der Herr ist gekommen, damit wir eine völlig neue Dimension unseres Denkens gewinnen, ganz im Gegensatz zur Welt, im diametralen Gegensatz zum üblichen Denken der Menschen.

Es gibt Fragen, die da lauten: Warum hat der Herr immer nur je einzelne unter so vielen geheilt? Es gab Tausende von Aussätzigen; warum hat er nur wenige geheilt? Es gab viele Entschlafene; warum hat er nur drei erweckt? Es gab soviel Not und Krankheit; warum immer nur einzelne, die Er herausgenommen hat? Er ist eben nicht gekommen, um das Leid von dieser Erde zu verbannen. Er ist eben nicht gekommen, um die Menschen von ihrem Leiden, von ihren Krankheiten zu erlösen. Er ist eben nicht gekommen, um eine „bessere, eine glücklichere Menschheit“ zu schaffen. Sondern Er ist gekommen Deinetwegen, wegen Dir, nur wegen Dir, um Dich herauszuholen und heraus zurufen.

Und jeder Bericht über eine Heilung, eine Befreiung von Besessenheit, über eine Erweckung meint Dich. Du bist angeredet, Dir wird die große Chance eröffnet, Dir wird das Angebot gemacht. Du sollst herausgerufen werden aus der Waagerechten hinein in die Senkrechte. Es ist unvorstellbar und lächerlich, dass der Herr eine Organisation gegründet hätte, um möglichst viele – am besten alle – Leidtragenden, Beladenen zu heilen und ihnen eine bessere Lebensqualität zu vermitteln. Mit solchen Vorstellungen und Zielsetzungen hat der Herr nichts, nicht im entferntesten etwas zu tun. Er will keine bessere Welt. Er will keine moralischere Menschheit. Er will keine wohnlichere, humanere Erde. Darum ist er nicht gekommen. Er ist Deinetwegen gekommen, nur Deinetwegen, um Dich heraus zurufen zu Sich in Dich hinein. Das ist der Sinn Seines Angebotes. Immer nur den einzelnen, eben Dich

Das ist das Herrliche, das Neue, die neue Dimension. Es ist eine Last, eine Krankheit, daß in unseren Reihen nach rechts und links geschaut wird. Der Herr hat es doch so deutlich, so über deutlich gesagt, und man lese doch sehr genau die hl. Schrift, eben besonders die Evangelien, besonders Johannes. Er erwählt den Simon, Er bestätigt die Erwählung: „Weide meine Lämmer!“ Aber Petrus dreht sich um – dieses typische Sich-Umschauen, nach rechts und links, nach vorn und hinten schauen, das der Herr verbietet, das der wahren Liebe im Wege steht –, er schaut auf Johannes: „Was aber ist mit diesem da?“ Immer wieder erleben wir dies in den Gemeinden, wohinter auch eben ein falscher Begriff steckt, eine falsche Vorstellung.

Wenn in der Apostelgeschichte und in den Apostelbriefen von „Gemeinde“ die Rede ist, dann ist damit nur gesagt „eine örtliche Beziehung“. Hier in Galatien, in Korinth, in Philippi ist der Herr da. Da ist Kirche, weil Christus mit seinem Anspruch sichtbar, hörbar, wahrnehmbar zugegen ist und sich dort dieser und dieser je einzelne Ihm öffnet. Das ist die Gegebenheit der Gemeinde: eine Beziehung von Du zu Du und Du in Du.

„Aber was ist mit diesem da?“ – Antwort des Herrn: „Was geht das dich an!“ „Da sieh mal an, was die für ein Leben führen. Die gehen ja zur Kommunion. Dass das der Pfarrer zulässt, diese Leute zur Kommunion gehen zu lassen.“ – Antwort des Herrn: „Was geht das dich an?“ Die leben so; die leben so: weg mit der moralischen Kategorie aus unserem Bewusstsein! Christus ist nicht gekommen, um uns moralisch aufzubessern. Christus ist nicht gekommen, um uns zu moralischen Menschen zu machen, um uns moralisch aufzustocken.

Er denkt gar nicht daran! Erst wenn wir dieses moralische Denken aus unserem Geist verbannen, haben wir die Chance, unendlich moralischer zu werden als diejenigen, die als Befehlsempfänger nur auf den Wortlaut der Gebote schauen und meinen: Was muss ich tun, darf ich das tun, muss ich das tun, was ist verboten, was ist erlaubt? Das ist Knechtesinn. Diesen Sinn auszutreiben ist Christus gekommen. „Bin ich besser, ist der besser, lebt der moralischer, jener moralischer, und der lebt in der öffentlichen Sünde und, und,“

„Was geht das Dich an. Du folge mir nach!“ Du bist gemeint! Du kommst in die Senkrechte; da hört das nach rechts und links, nach hinten und vorne Schauen auf. Und erst wenn Du dies begriffen hast, statt des ES einer moralischen Verhaltensweise, statt der sächlichen Dimension kommt jetzt die personalen Dimension, das DU zu DU, Liebe – gib Dich hin, öffne Dich, sage JA; und dann tu, was Du willst. Du wirst dann automatisch unendlich moralischer handeln, ganz von selbst.

Du wirst aber sehr unzufrieden sein mit Deinem Einsatz. Du wirst ihn für nichts achten, weil die Liebe keine Zufriedenheit kennt und weil die Liebe kein GENUG kennt und weil die Liebe kein gutes Gewissen kennt als sanftes Ruhekissen. Die Liebe kennt nur die unendliche Erbarmung des Geliebten, das grenzenlose Vertrauen in den Geliebten, dem sie sich hingibt. Ich bin ganz in meinem Geliebten, und mein Geliebter ist mein, Er, der mich liebt, da atme ich neu, da finde ich mich neu, da bin ich erhoben, angenommen, da finde ich ein neues Selbst in Ihm, durch Ihn; da atme ich ein neues heiliges, stolzes, demütig stolzes Selbstbewußtsein, das Selbstbewußtsein, das sich eben empfängt, ein ICH, das aus dem DU stammt, mit dem Er mich anredet und herausweckt aus allen Verflochtenheiten der waagerechten Dimension.

Du bist gemeint. Und erst wenn Du dies begriffen hast und nicht mehr nach rechts und links nach moralischen Gegebenheiten fragst und vergleichst und geheimen Neid in Dir hegst und geheime Rachsucht in Dir hegst, da eröffnet sich erst die Möglichkeit der wahren Liebe. Dann kann sie erst erblühen unter solchen, die jeweils als Einzelne und Einsame Ihn gefunden haben und sich Ihm hingeben und Ihn vor ihr geistiges Angesicht bekommen; da auf einmal ergibt sich das große Verlangen, dem je Begegnenden die Tür zu öffnen, um in die Senkrechte hineinzusteigen; nicht das Bestreben, möglichst viele in vergleichbarem Maße gerecht zu behandeln, gleich zu behandeln – das sind Begriffe, die dem Neuen Testament völlig fremd sind; dafür interessiert sich Christus überhaupt nicht –, sondern daß Du hinaufgehoben wirst ins Du zu DU und DU in DU.

Und daraus ergibt sich die wahre, fraglose, bedingungslose, vorurteilslose, zwecklose, unvoreingenommene Liebe. Erst wenn der Einzelne sich herauslösen lässt und kein Nebeneinander mehr kennt und kein Außerdem und kein Miteinander und kein Und, kein Hintereinander und kein Voreinander, sondern nur das Ineinander in der Senkrechten, da erblüht von selbst, nicht arrangiert, nicht gemacht durch irgendwelche Mätzchen und Gemeinschaftsarrangements und das gottverhaßte Miteinander – diese große Ehrfurcht zueinander, ineinander. Das ist immer dies eine und immer dies, der je Einzelne. Und das bist eben Du und nur Du. Und was ich immer wiederhole: Du wirst zu einem riesigen NUR, und nur wenn Du NUR wirst, wirst Du zur Liebe fähig, weil Du dann auch im je Begegnenden das große NUR ehrfürchtig erkennst und bestaunst im Schweigen der Hingabe, des für Ihn, zu Ihm hin und in Ihm Seins.

Alles Aufzählen, alles Vergleichen, alles, was sich zwischen rechts und links begibt: dies zu überwinden, dies vergessen zu lassen, dies hinter uns zu lassen als das Gemeine, dazu ist Christus gekommen, und Seine Gerechtigkeit hat mit verteilender Gerechtigkeit überhaupt nichts zu tun, sondern es ist das Aufgerichtet-sein in die Lotrechte der personalen IN-Beziehung, des IN-Leidens, des Drinnen-seins, des DU in DU, was mit dem Gleichnis vom stillen Kämmerlein gemeint ist.

Da haben wir es wieder. Da ist es denn wieder von Satz zu Satz, von Begebenheit zu Begebenheit; von Szene zu Szene erleben wir dies, immer wieder dies und nur dies: das stille Kämmerlein, woraus alles erfließt, was Wert hat. Und alles hat nur in soweit Wert, als es aus dem stillen Kämmerlein erfließt. Da wird es Geist, da wird es Anbetung, da wird es Hingabe, da wird es Erleuchtung und Erlösung. „Siehe, Ich mache alles neu.“

Pfarrer Hans Milch, 1985

Die Würde der Mutter, die Würde der Frau

Meine lieben Brüder und Schwestern,

da heißt es in der Epistel, aus dem Galaterbrief: „Wir, meine Brüder, sind wie Isaak Kinder der Verheißung. Aber wie damals der nach dem Fleische Geborene den nach dem Geiste Geborenen verfolgte, so ist es auch jetzt. Doch was sagt die Schrift? „Verstoße die Magd mit ihrem Sohne; denn der Sohn der Magd soll nicht Erbe sein neben dem Sohn der Freien“. So sind auch wir, meine Brüder, nicht Kinder der Magd, sondern Kinder der Freien auf Grund der Freiheit, die uns Christus geschenkt hat.“

Daran wollen wir anknüpfen, um unser Thema fortzusetzen: die Würde der Mutter, die Würde der Frau, die Bedeutung der Mutter. Wir müssen gerade, da wir im Gebet und im Geiste den großen Umschwung vorbereiten, welcher der Kirche wieder ihr Gesicht gibt und sie wieder erkennbar macht, wir müssen – gerade wir! – die Fehler sehen, die in der Vergangenheit geschehen sind, vor allem auf der Ebene der seelsorglichen Praxis, Fehler, die mit die Bedingung dafür geschaffen haben, daß vor etwa zwanzig Jahren das Verderben und die Katastrophe in den Innenraum der Kirche einbrechen konnte. Es wäre völlig falsch zu sagen, „alles, was früher war, war durchweg richtig, grundsätzlich richtig gehandhabt worden“. Das ist nicht wahr. Gerade, wenn man an die Frau und Mutter denkt, da wurde der Unsinn erzählt, es gelte für den Christen das Wort „Er soll dein Herr sein“. – Christus ist gerade gekommen, um dieses Wort aufzuheben und auszuradieren! Es gilt ja gerade seit Christus und durch Christus nicht mehr! Auch im Epheserbrief die berühmten Passagen, die bei der Trauungsmesse vorgelesen werden, sind nicht in dem Sinne einer Herrschaft des Mannes zu verstehen. Wenn da der hl. Paulus sagt: „Die Frauen seien den Männern untertan, wie die Kirche Christus untertan ist“, dann ist das ein ganz anderes Untertan-Sein, nämlich ein Untertan-Sein in der Liebe! Lieben heißt dienen, geliebt werden heißt herrschen! Und zwischen zwei Liebenden beruht das auf völliger Gegenseitigkeit.

Christus sagt von Sich, daß Er umhergehen wird, um uns zu bedienen. Er sagt: „Ich bin nicht gekommen, Mich bedienen zu lassen, sondern zu dienen.“ Gerade Er ist ja Mensch geworden, um die Menschheit zu Seiner Höhe emporzuführen! Denn „Er soll dein Herr sein“, das bezieht sich ja zunächst auf Gott. Dadurch, daß sich die Menschen Gott verweigerten, um zu sein wie Gott aus eigener Kraft, gerade deshalb gerieten sie unter Gott, fielen sie aus der Partnerschaft mit Gott heraus; und Gott war Herr, und die Menschen Knechte und Mägde Gottes. Gerade das ist ja aufgehoben worden durch Christus! Der Mann aber ist Sinnbild Gottes und die Frau Sinnbild der Menschheit und der Schöpfung. Und wie durch Christus die Menschheit wieder auf die Höhe Gottes geführt wird, so ist durch Christus die Frau wieder auf die Höhe des Mannes geführt worden. Das Wort „Er soll dein Herr sein“ ist aufgehoben.Würde es noch gelten, wir wären bis zur Stunde nicht erlöst! Es führt kein Weg daran vorbei. Wir können uns das nicht oft genug sagen: Die Frau ist als Frau, in ihrer Fraulichkeit, in ihrer Mütterlichkeit dem Manne völlig ebenbürtig und hat ihm nicht, in keiner Weise, um nichts zu gehorchen! Männer, die einen Gehorsamsanspruch an ihre Frau stellen und das an sich selber bemerken, haben mal wieder einen Stoff für die nächste Beichte bzw. Generalbeichte.

Ebenbürtigkeit: dies ist das Gegenteil von Gleichmacherei. Die Frau ist nicht dem Manne gleich, sie ist anders; und in ihrem Anders-Sein ebenbürtig, gleichwertig, groß, königlich. Christus ist gekommen, um die Frau zu bestätigen, zu krönen. In Maria sind alle Frauen und Mütter und Jungfrauen gekrönt, zu Königinnen erhoben worden. Und es ist die Aufgabe des Mannes, in seinen Kindern die Ehrfurcht vor der Frau zu wecken. Wenn er sich als Herr aufspielt und seine Frau wie eine Magd behandelt, versündigt er sich an seinen Kindern, versündigt er sich an seiner Frau und an seiner eigenen Aufgabe. Ebenbürtigkeit bedeutet sehr viel. Und wir werden das nächste Mal über Fragen des Zwischenmenschlichen und der Zweisamkeit besonders reden. Nun aber die Mutter. Sehen Sie, man hat die Frau tatsächlich sehr herabgesetzt, weil man auch das von der Erziehung nicht begriffen hat. Was weithin unter Erziehung verstanden wird, das ist relativ wenig.
Da ist das Ziehen – gehört auch dazu, ich habe schon oft darüber gesprochen –, aber es ist notwendig, das sehr genau auseinanderzuhalten. Wenn ich Kindern beibringe, daß sie einen Diener machen bzw. einen Knicks, daß sie anständig die Hand geben, daß sie nicht schmatzen und nicht schlürfen usw., usw., dann ist das keine Erziehung, sondern ein Ziehen. Ein Kind, welches diese Anstandsregeln, Regeln des Umgangs mit dem anderen Menschen und das Verhalten nicht beherrscht, ist nicht etwa un-er-zogen, sondern un-ge-zogen. Die Er-ziehung ist wesentlich mehr. Erziehung ist, um mit Kierkegaard zu sprechen, Existenzmitteilung, Daseinsmitteilung; und das heißt: Mitteilung einer eigenen Begeisterung! Und das ist nur möglich im Gespräch. Und sehr früh schon, beim ganz, ganz kleinen Kind, beginnt das Erziehen in das Ziehen einzufließen, und zwar immer stärker bis schließlich die Erziehung das Ziehen ablöst.

Es ist wichtig, daß die Mutter um ihre eigene Würde weiß. Die Frau ist kraft ihrer Natur Repräsentantin der Schöpfung. Das Weibliche ist die Basis der ganzen Schöpfung. Auch im geschaffenen Manne ist das Weibliche das Fundament seines Daseins. Das Weibliche ist das Allgemeine, das Menschheitliche, Volkliche. Und darum ist die Frau mit den Geheimnissen der Schöpfung, mit den Geheimnissen des Lebens besonders stark vertraut, d.h. überhaupt mit den Geheimnissen. Die Frau ist auf das Unaussprechliche bezogen. Das hat man so platt ausgelegt in dem Sinn, die Frau wäre mehr für das Gefühl, und der Mann mehr für den Verstand. Das ist natürlich kompletter Unsinn! Aber mit dieser Vorstellung ist die Frau jahrhundertelang erniedrigt worden. Die Frau ist so ein Gefühlsbündel in der Vorstellung der Menschen. Die Frau weint zum Beispiel, der Mann weint nicht – eine etwas idiotische, pseudopreußische Vorstellung, die sich sehr lange eingefressen hat: Ein Mann darf nicht weinen, ein Mann darf keine Gefühle zeigen, ein Mann ist ein dürrer Reiter des Verstandes und läßt keine Gefühle aufkommen; und die Frau ist butterweich und nachgiebig und gutmütig und ist ein einziges wogendes Meer von Gefühlen. – Ein vollkommener Unsinn! Der Mann ist genauso ein Gefühlsmensch wie die Frau; und die Frau ist genauso verstandesbegabt wie der Mann. Aber die Frau hat eine spezifische Eigenart ihres Geistes, nämlich eine Bezogenheit ins sogenannte „Intuitive“, d.h. sie ist besonders fähig, das Unaussprechliche wahrzunehmen, das Geheimnis geistig zu fassen. Und darum ist sie mit dem All tief verwandt. Sie hat eine Fähigkeit der zusammenfassenden Schau, einer Erkenntnis der Zusammenhänge und ist von daher besonders in der Lage, ratgebend beizustehen. Das Ratgeben ist das Gebären des Geistes. Darum ist die Frau Ratgeberin, mütterliche Ratgeberin ihres Mannes. Und auch der Mann sollte in seiner Frau das Mütterliche suchen und im Mütterlichen seiner Gemahlin Berge und Halt suchen und finden.

Wenn der Mann so seiner Frau begegnet, die Frau in der Männlichkeit des Mannes und der Mann in der Mütterlichkeit der Frau Halt finden, dann ist eine Atmosphäre geschaffen gemeinsamer Begeisterung, wenn beide gepackt sind von den großen Gegenständen, die über den Tag hinausweisen. Und wenn Begeisterung da ist, dann ist die Atmosphäre gegeben, in der die Kinder gedeihen. Atmosphäre ist alles. Wenn die Atmosphäre da ist, können sie tausend Fehler begehen. Wenn keine Atmosphäre da ist, können sie soviele pädagogische Zeitschriften studieren, wie sie wollen: es nutzt nichts; dann mögen sie noch so sehr nach dem neuesten psychologischen Schrei vorgehen: Wo Du nicht begeistert bist, spürt man Dir keine Begeisterung an und es nutzt alles nichts!

Wenn übrigens der hl. Paulus sagt: „Die Frau schweige in der Kirche“, meint er genau dies: Die Frau ist die Walterin des Schweigens. Und wenn sie redet, redet gerade die Frau aus dem wissenden Schweigen heraus, weil sie auf das Unaussprechliche hingeordnet ist. Der Mann nimmt das wahr. Und der Mann bringt das Unaussprechliche wie ein Bräutigam zum Ausdruck. Deshalb gestaltet der Mann das, was er von der Frau vernimmt. Beispielsweise in der Musik ist es auffällig, daß es sehr viele Dichterinnen, Romanschreiberinnen gibt, aber keine Komponistinnen. Die Frau selber ist Musik. Sie ist in ihrer Subjektivität selber Musik. Und der Mann nimmt es auf und spiegelt es zurück. Die Frau ist spiegelnder Bronnen. Aus ihr schöpft der Mann Leben, und er spiegelt sich und findet sich in ihr, in dem Schoße ihres Geistes bestätigt.

Das macht die Größe der Frau aus. Ich kann natürlich in dem Rahmen einer Predigt nur in kurzen Andeutungen reden. Es ist ein großer Irrtum zu meinen, die Größe des Geistes hänge ab von irgendeinem nachweisbaren Studium oder von einem akademischen Titel. Von daher kommt die hektische Sucht vieler Frauen heute, unbedingt auch irgendetwas nachweisen oder aufweisen zu sollen in dieser Beziehung. Es ist durchaus der Erwägung wert, und es ist möglicherweise notwendig, daß viele Frauen auch eine Berufsmöglichkeit erwerben für den Fall, daß sie alleinstehen. Das ist in unserer heutigen Gesellschaft weithin unumgänglich. Es ist nur ein Irrtum zu meinen, davon hinge ihre Ebenbürtigkeit ab! Das ist ein großer, ein verbreiteter Irrtum. Ganz und gar nicht. Geist, der ist überall zu haben, wenn er verstanden wird von sich selbst und geweckt wird von dem, der gekommen ist, des Geistes ansichtig zu werden und im Erkennen des Geistes den Geist zu wecken. Denn der Geist wird geweckt, wenn er erkannt wird. Das ist eine Sache, die sich durch alle Schichten hindurchzieht. Es kann einer drei Doktortitel haben und zweimal habilitiert sein – und doch, bei aller Spezialbegabung, dumm! Und es kann einer mit bloßer Grundschulbildung ein Mann der Bildung bzw. eine Frau der Bildung und des Geistes sein. Die Vorstellung, Geist hinge vom Umfang des Wissens ab, ist sehr töricht. Ein gewisses Wissen gehört dazu, aber ein Wissen, das aus Eros, aus Liebe gewonnen wird, nicht etwa krampfig, um auch mitreden zu dürfen, zweck-haft – sondern zweck-los. Bildung ist in dem Maße Bildung, wie sie zweck-los erworben ist. Wer sie erwirbt, um etwas zu gelten, um etwas vorweisen zu können oder um Karriere zu machen oder um mitreden zu können, um in der Diskussion mithalten zu können, der kann auswendig ganze Enzyklopädien und Lexika mit sich herumschleppen und ein Muster von Gedächtnis sein und auf alles eine komplette Antwort geben: Er ist ungebildet bis in die Fußzehen! Sein ganzes Wissen nutzt nicht. Bildung ist Eros.

Das sollte man wissen. Und heute weiß man es nicht mehr. Es ist ein Trauerspiel zu sehen, wie die Kinder weithin ohne die Mütter aufwachsen, ohne das Gespräch mit den Müttern, ohne die Zärtlichkeit, die Nähe, den Austausch mit der Mutter, weil die Mutter wähnt, sie wäre erst etwas, wenn sie irgendeinen Berufsstatus habe. Das ist ein furchtbarer, für die Kinder tödlicher Wahn! Die Größe der Frau liegt im Mütterlichen, nicht etwa im Kochtopf, im Herd, daß sie Hausfrauenarbeit vollzieht – das hängt damit zusammen, daß sie das Heim hütet und heimische Berge schafft –, aber ihr Wert besteht im Mütterlichen! Und es gibt nichts Größeres und Geistigeres auf der Welt als das Mütterliche! Von nichts wird geistig die Mutterschaft übertroffen – erreicht vom Priesterlichen, übertroffen von nichts!

Pfarrer Hans Milch, 1980