Chesterton II

„The whole modern world has divided itself into Conservatives and Progressives. The business of Progressives is to go on making mistakes. The business of Conservatives is to prevent mistakes from being corrected. Even when the revolutionist might himself repent of his revolution, the traditionalist is already defending it as part of his tradition. Thus we have two great types–the advanced person who rushes us into ruin, and the retrospective person who admires the ruins. He admires them especially by moonlight, not to say moonshine.“

(Gilbert K. Chesterton, 1924)

Revolutionäre Christen?

Wie wir schon sahen, lautet eines der Argumente, mit denen begründet wird, warum man für den Fortschritt eintreten soll: dass die Welt von Natur aus immer besser wird. Aber der einzig wahre Grund, ein Fortschrittsanhänger zu sein, besteht doch darin, dass die Welt von Natur aus immer schlimmer wird. Der allgemeine Verfall spricht nicht nur dafür, progressiv zu sein; er spricht auch als einziges dafür, nicht konservativ zu sein.

Gegen den Konservativismus bliebe uns kaum eine Gegenkraft oder Erwiderung, gäbe es nicht dieses eine Faktum. Alles Konservative beruht auf der Vorstellung, dass man, wenn man die Dinge sich selbst überlässt, sie so lässt, wie sie sind. Das tut man aber mitnichten. überlässt man etwas sich selbst, so überlässt man es einem rasanten Wandel. überlässt man einen weißen Pfosten sich selbst, wird er bald schwarz sein. Möchte man unbedingt, dass er weiß bleibt, so muss man ihn immer wieder streichen; das heißt, man muss beständig für eine Revolution sorgen.

Kurz, wer den alten weißen Pfosten will, muss für einen neuen weißen Pfosten sorgen. Trifft dies aber schon auf Unbelebtes zu, so in besonderem und zugespitztem Sinn auf alles Menschliche. Weil menschliche Institutionen so unglaublich schnell veralten, wird jedem Bürger eine fast unnatürliche Wachsamkeit abverlangt. In Groschenromanen und Zeitungsartikeln ist fast immer von Menschen die Rede, die unter einer alten Tyrannei leiden. In Wirklichkeit haben die Menschen aber meist unter neuen Tyranneien gelitten; unter Tyranneien, die kaum zwanzig Jahre zuvor noch bürgerliche Freiheiten waren.

England zum Beispiel bejubelte die „patriotische Monarchie Elisabeths“ -und dann fluchte es (fast unmittelbar danach) unter Karl I. in der Falle der Despotie. In Frankreich wiederum wurde die Monarchie nicht etwa untragbar, nachdem sie ertragen, sondern nachdem sie angebetet worden war. Der guillotinierte Ludwig war der Sohn des von allen geliebten Ludwig XIV. Und im England des 19. Jahrhunderts galt der radikale Fabrikant als vertrauenswürdiger Sprecher des Volkes, bis plötzlich die Sozialisten aufschrieen, er sei ein Tyrann, der sich vom Volk ernähre wie von Brot.

Als letztes sei daran erinnert, dass wir noch unlängst die Zeitungen für vertrauenswürdige Organe der öffentlichen Meinung hielten. Erst jetzt haben manche (nicht allmählich, sondern mit einem Schlag) erkannt, dass davon nicht die Rede sein kann. Die Presse ist – und das liegt in der Natur der Sache – das Hobby einiger reicher Männer.

Wir brauchen also nicht gegen das Alte zu rebellieren; wir müssen gegen das Neue rebellieren. Die neuen Herrschenden, der Kapitalist oder der Verleger, sind die Stützen der Moderne. Es besteht keine Gefahr, dass heutzutage ein König versuchen könnte, die Verfassung außer Kraft zu setzen; wahrscheinlicher ist, dass er sie ignoriert und hinter ihrem Rücken handelt; zugute kommen wird ihm dabei nicht seine königliche Macht, sondern seine königliche Machtlosigkeit, die Tatsache, dass Kritik und Öffentlichkeit ihn nicht erreichen. Denn der König ist die privateste Privatperson unserer Zeit. So erübrigt sich auch der Kampf gegen die gesetzlich geplante Pressezensur. Pressezensur brauchen wir nicht, wir haben die Zensur durch die Presse.

Dass populäre Systeme sich so erschreckend schnell in repressive verwandeln, ist also das dritte Faktum, das unsere perfekte Fortschrittstheorie berücksichtigen sollte. Stets muss sie im Blick haben, wo ein Privileg missbraucht und wo geltendes Recht zu Unrecht wird.

In dieser Frage stehe ich ganz auf Seiten der Verfechter der Revolution. Eigentlich haben sie recht mit ihrem ständigen Misstrauen gegenüber menschlichen Institutionen; sie haben Recht, weder Fürsten noch Menschen überhaupt zu vertrauen. Der politische Führer, der gewählt wurde, um ein Freund des Volkes zu sein, wird zum Feind des Volkes; die Zeitung, die gegründet wurde, um die Wahrheit auszusprechen, ist jetzt dazu da, das Aussprechen der Wahrheit zu verhindern. In diesem Punkt sah ich mich wirklich auf Seiten des Revolutionärs. Und dann hielt ich erneut den Atem an, denn mir fiel ein, dass ich auch diesmal auf Seiten des Orthodoxen stand.

Wieder sprach das Christentum und sagte:

<Immer habe ich geltend gemacht, dass die Menschen von Natur aus rückfällig sind; dass die menschliche Tugend von sich aus zu verkümmern und verrotten droht; immer habe ich gepredigt, dass die Menschen als solche sündig sind, besonders die glücklichen Menschen, besonders die stolzen und wohlhabenden Menschen. Diese ewige Revolution, diesen durch die Jahrhunderte hindurch wach gehaltenen Argwohn, nennst du (als unentschiedener Moderner) die Lehre vom Fortschritt. Wärst du ein Philosoph, würdest du es wie ich die Lehre von der Erbsünde nennen. Nenne es kosmischen Fortschritt, so viel du magst; ich bezeichne es als das, was es ist:  Sündenfall>

 

Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt VII: Die ewige Revolution