Solange es das Mysterium gibt, bleiben die Menschen gesund

Der einfache Mensch ist (geistig) gesund, weil er ein Mystiker ist. Er gestattet sich, im Zwielicht zu leben. Seit jeher steht er mit einem Fuß auf der Erde und mit dem anderen im Feenland. Er hat sich stets die Freiheit genommen, an seinen Göttern zu zweifeln; anders als der heutige Agnostiker aber hat er sich auch stets die Freiheit vorbehalten, an sie zu glauben. Wahrheit war ihm immer wichtiger als logische Konsequenz. Stand er vor zwei Wahrheiten, die sich zu widersprechen schienen, so akzeptierte er beide und nahm den Widerspruch in Kauf. Seine spirituelle Sichtweise ist so stereoskopisch wie seine körperliche: er sieht zwei verschiedene Bilder gleichzeitig, was seiner Scharfsicht aber nur zum Vorteil gereicht.

So hat er immer an so etwas wie Schicksal, aber auch immer an so etwas wie den freien Willen geglaubt. So hat er geglaubt, dass den Kindern das Himmelreich gehört, aber auch, dass sie dennoch den irdischen Mächten zu gehorchen haben. Er hat die Jungen wegen ihrer Jugend bewundert und die Alten, weil sie die Jugend hinter sich hatten. Genau in diesem Ausbalancieren scheinbarer Widersprüche bestand die Spannkraft des gesunden Menschen. Das ganze Mysterium der Mystik besteht darin: dass der Mensch alles kraft dessen verstehen kann, was er nicht versteht.

Der kranke Logiker bemüht sich überall um Klarheit und schafft es, alles ins Geheimnis zu hüllen. Der Mystiker findet sich damit, ab, dass es ein einziges Mysterium gibt und schon wird alles andere klar. Der Determinist arbeitet die Theorie der Kausalität bis ins letzte Tüpfelchen aus, nur um festzustellen, dass er nicht einmal mehr zum Dienstmädchen »dürfte ich Sie bitten« sagen kann.

Der Christ akzeptiert, dass die Willensfreiheit ein göttliches Geheimnis bleibt; eben deshalb aber ist sein Verhältnis zum Dienstmädchen so klar und durchsichtig wie Kristall. Er pflanzt den Samen des Dogmas ins Herz der Finsternis; aber der Same keimt und entfaltet sich voller Lebenskraft in alle Richtungen.

Aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt II: Der Besessene

Christliche Paradoxa #01

Nie las ich eine Zeile christlicher Apologetik. Auch heute lese ich davon so wenig wie möglich. Den Weg zur orthodoxen Theologie wiesen mir Huxley, Spencer und Bradlaugh.[1] Sie säten die ersten heftigen Zweifel am Zweifel in meinem Kopf. Unsere Großmütter hatten ganz recht mit ihrer Warnung, Tom Paine[2] und die Freidenker brächten uns nur den Verstand durcheinander. Das stimmt. Meinen brachten sie ganz schrecklich durcheinander.

Ausgerechnet der Rationalist brachte mich auf die Frage, ob Vernunftdenken eigentlich zu etwas nütze ist, und nach der Lektüre von Herbert Spencer war ich (zum ersten Mal) im Zweifel, ob die Evolution überhaupt stattgefunden hat. Als ich den letzten von Colonel Ingersolls[3] atheistischen Vorträgen beiseite legte, schoß mir der grauenvolle Gedanke durch den Kopf: »Fast machst du mich schon zum Christen!« Ich war ganz verzweifelt.

Für diese sonderbare Wirkung der großen Agnostiker – daß sie Zweifel wecken, die tiefer reichen als ihre eigenen – ließen sich viele konkrete Beispiele anführen. Ich beschränke mich auf eines. Als ich all diese nicht- oder antichristlichen Darstellungen des Glaubens, von Huxley bis Bradlaugh, las und immer wieder las, gewann ich langsam, aber spürbar den schrecklichen Eindruck, das Christentum müsse etwas ganz Außergewöhnliches sein. Denn nicht bloß besaß es besonders gefährliche Laster, sondern offenbar (wie mir klar wurde) auch eine mystische Gabe angeblich unvereinbare Laster zusammenzubringen.

Attackiert wurde es von allen Seiten und aus den gegensätzlichsten Gründen. Kaum hatte einer der Rationalisten bewiesen, daß es zu weit im Osten liege, bewies ein anderer nicht weniger klar, es liege zu weit im Westen. Kaum hatte sich meine Empörung, ob seiner schroffen und aggressiven Kantigkeit etwas gelegt, da wurde mein kritischer Blick auf seine verweichlichende und sinnesfreudige Rundheit gelenkt.

Für den Fall, daß jemand unter meinen Lesern dem hier Geschilderten nie begegnet ist, will ich an ein paar willkürlich herausgegriffenen Beispielen veranschaulichen, wie dieser dem Angriff der Skeptiker innewohnende Widerspruch aussieht. Ich beschränke mich auf vier oder fünf; es gibt aber noch fünfzig weitere.

Sehr erregt hat mich etwa die wortgewaltige Anklage, das Christentum sei geprägt von unmenschlicher Schwarzseherei; denn aufrichtigen Pessimismus empfand ich (und empfinde ich noch heute) als unverzeihliches Vergehen. Unaufrichtiger Pessimismus ist eine soziale Errungenschaft, und zwar eine eher angenehme; und glücklicherweise ist fast jeder Pessimismus unaufrichtig. Wäre das Christentum tatsächlich, wie diese Leute behaupten, durch und durch schwarzseherisch und lebensfeindlich, würde ich so fort St. Paul’s Cathedral in die Luft jagen. [Diese Floskel wird wohl heute hundert Jahre später die Aufmerksamkeit sämtlicher westlicher Geheimdienste erregen, damals galt sie wohl noch politisch korrekt; Anmerkung M. Schüler]

Aber nun kommt das Erstaunliche. Im ersten Kapitel bewies man mir (zu meiner großen Genugtuung), daß das Christentum zu pessimistisch ist; im zweiten Kapitel bewies man mir dann, daß es viel zu optimistisch ist. Einerseits warf man dem Christentum vor, mit seinem gräßlichen Heulen und Zähneklappern hindere es die Menschen, am Busen der Natur Freude und Freiheit zu suchen. Andererseits warf man ihm vor, mit seiner frei erfundenen Vorsehung lulle es die Menschen nur ein und verbanne sie in eine rosa-weiße Kinderwelt.

Der eine Agnostiker monierte die christliche Ansicht, die Natur sei von sich aus nicht schön und es falle so schwer, frei zu sein. Ein anderer wandte sich gegen den christlichen Optimismus (»das von frommen Händen gewobene Kleid der Heuchelei«), der uns die Tatsache verberge, daß die Natur häßlich und daß es unmöglich ist, frei zu sein.

Kaum hatte der eine Rationalist das Christentum als Alptraum bezeichnet, kam schon ein anderer und nannte es das Paradies des Toren. Das gab mir zu denken; die Vorwürfe vertrugen sich nicht miteinander. Die christliche Religion, so fand ich, kann nicht gleichzeitig eine schwarze Maske vor einer weißen Welt und eine weiße Maske vor einer schwarzen Welt sein. Die Lage des Christen kann nicht gleichzeitig so behaglich sein, daß es feige ist, daran zu hängen, und so unbehaglich, daß es töricht ist, sie zu ertragen. Wenn das Christentum das Weltbild der Menschen verfälscht, geht das nur auf die eine oder die andere Weise; es kann nicht sowohl eine grüne als auch eine rosa Brille sein.

Damals ließ ich mir, wie alle jungen Männer, Swinburnes höhnisch herausgebrüllte Verse über den Trübsinn der Religion genußvoll auf der Zunge zergehen:

Du hast gesiegt, oh bleicher Galiläer,

die Welt ist heute grau von Deinem Atem.

Aber als ich las, was derselbe Dichter (etwa in Atalanta) über das Heidentum schreibt, begriff ich, daß die Welt wohl noch grauer war, bevor der Atem des Galiläers sie streifte. Dort behauptet Swinburne in abstracto, das Leben schlechthin sei stockfinster. Und dennoch soll das Christentum es verfinstert haben. Ihm hielt er vor, es sei pessimistisch, und dabei war er selbst ein Pessimist. Da konnte doch etwas nicht stimmen.

Und einen schwindelerregenden Augenblick lang schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß das Verhältnis zwischen Religion und Glück von denen, die nach eigenem Bekunden weder das eine noch das andere besitzen, nicht gerade am besten beurteilt werden kann.

Um Missverständnisse zu vermeiden: ich bin damals nicht spornstreichs zu dem Schluß gelangt, die Anklagen seien falsch oder die Ankläger Einfaltspinsel. Ich habe nur gefolgert, das Christentum müsse sehr viel unheimlicher und verruchter sein, als sie es darstellten. Mag sein, daß etwas tatsächlich zwei so entgegengesetzte Laster hat; aber dann ist es einigermaßen sonderbar. Wenn jemand einerseits zu dick und andererseits zu dünn ist, macht er eine seltsame Figur. Zum damaligen Zeitpunkt dachte ich nur an die seltsame Figur der christlichen Religion; ich schloß nicht auf eine seltsame Figur im rationalistischen Denken.

Hier ein zweites Beispiel. Als schlagendes Argument gegen das Christentum empfand ich den Vorwurf, alles »Christliche« habe etwas Ängstliches, Schwächliches und Unmännliches an sich, besonders in seiner Einstellung zum Sich-Wehren und Kämpfen. Die großen Skeptiker des 19. Jahrhunderts waren in der Regel gestandene Männer: Bradlaugh auf seine überschwengliche, Huxley auf seine reservierte Art. Im Vergleich zu ihnen waren die christlichen Maximen tatsächlich gekennzeichnet durch Schwäche und übermäßige Langmut.

Das Evangelium mit seinem Paradox von der anderen Wange, die Tatsache, daß Geistliche nie mit der Waffe kämpfen, dies und vieles andere stützte den Vorwurf, das Christentum sei ein Versuch, Männern“ das Aussehen von Lämmern zu geben. Ich las ihn und glaubte ihn, und hätte ich sonst nichts gelesen, dann hätte ich ihn auch weiterhin geglaubt. Aber plötzlich las ich etwas ganz anderes.

Ich schlug eine Seite in meinem Handbuch für Agnostiker um, und mein Verstand war plötzlich auf den Kopf gestellt. Da erfuhr ich nämlich, ich müsse das Christentum hassen, nicht weil es zu wenig, sondern weil es zu viel kämpfe. Die christliche Religion, so hieß es nun, sei die Mutter aller Kriege. Sie habe die Welt mit Blut überschwemmt. Bisher war ich zornig auf den „Christen“, weil er nie in Zorn gerät. Und jetzt las ich, ich müsse zornig auf ihn sein, weil sein Zorn das Gigantischste und Schrecklichste sei, was die menschliche Geschichte je gesehen habe; weil sein Zorn die Erde getränkt und die Sonne geschwärzt habe.

Dieselben, die dem Christentum vorwarfen, daß seine Klöster auf Gewalt und Widerstand verzichten, hielten ihm zugleich vor, daß seine Kreuzzüge Gewalttätigkeit und Heldenmut forderten. Ihnen zufolge war das arme alte Christentum gleichermaßen daran schuld, daß Eduard der Bekenner nicht gekämpft und daß Richard Löwenherz gekämpft hat. Die Quäker, so lasen wir, sind die einzig typischen Christen; und dennoch sind die von Cromwell und Alba veranstalteten Massaker typisch christliche Verbrechen.

Was sollte das alles heißen? Was mochte das für ein Christentum sein, das unablässig Kriege verbietet und unablässig Kriege zeugt? Wie mochte etwas beschaffen sein, wenn man ihm einerseits vorhalten kann, es kämpfe nicht, und andererseits, es kämpfe unaufhörlich? Aus welcher Rätselwelt stammte diese monströse Mordlust und diese monströse Sanftmut? Von Minute zu Minute sah das Christentum wunderlicher aus.

Und hier ein drittes Beispiel, das sonderbarste von allen, weil es dabei um den einzigen echten Einwand gegen den Glauben geht. Der einzige echte Einwand gegen die christliche Religion lautet schlicht, daß sie eine Religion unter anderen ist.

Die Welt ist groß und voll von Menschen verschiedenster Art. Das Christentum (so kann man argumentieren) ist etwas Bestimmtes und auf bestimmte Menschen begrenzt; es begann in Palästina und kam praktisch über Europa nicht hinaus. In meiner Jugend hat mich dieses, Argument gehörig beeindruckt, und ich war, fasziniert von der in den »Ethischen Gesellschaften« oft gepredigten Doktrin, alle Menschen seien, ohne es zu wissen, vereint in einer einzigen großen Religionsgemeinschaft, die sich auf die Allgegenwart des menschlichen Gewissens gründet.

Glaubenslehren, so hieß es, spalten die Menschheit; die Sittlichkeit hingegen eint sie. Mag die Seele in die fremdartigsten und fernsten Länder und Zeiten ausschwärmen – immer wird sie auf das dem Menschen innewohnende sittliche Gefühl stoßen. Mag sie Konfuzius unter fernöstlichen Bäumen antreffen – er wird dort schreiben: »Du sollst nicht stehlen.« Mag sie die rätselhafteste Hieroglyphe in der ältesten Wüste entziffern einmal enträtselt wird sie bedeuten: »Knaben müssen die Wahrheit sagen.«

Damals glaubte ich an den Grundsatz, daß alle Menschen als sittlich empfindende Wesen Brüder sind, und, ich glaube noch heute daran – wenn es um andere Dinge geht. Und ich war zutiefst empört, weil (wie ich annahm) das Christentum unterstellt, ganze Menschenalter und Reiche hätten dieses Licht der Gerechtigkeit und Vernunft nie gekannt.

Aber dann entdeckte ich etwas Erstaunliches. Ich entdeckte, daß dieselben Leute, die behaupteten, die Menschheit sei – von Platon bis Emerson – eine einzige Religionsgemeinschaft, zugleich behaupteten, die Sittlichkeit habe sich von Grund auf gewandelt und was in der einen Epoche richtig sei, sei in einer anderen falsch.

Fragte ich zum Beispiel nach einem Altar, bekam ich zu hören, wir brauchten keinen, denn die Menschen, unsere Brüder, hätten uns mit ihren allgemeinen Sitten und Idealen unmißverständliche Orakel und einen einheitlichen Glauben hinterlassen. Wies ich jedoch sachte darauf hin, daß es zu diesen allgemeinen Sitten der Menschen gehöre, einen Altar zu haben, vollzogen meine agnostischen Lehrmeister eine schlichte Kehrtwendung und behaupteten, die Menschen hätten immer in Unwissenheit und im Aberglauben der Wilden gelebt.

Täglich hörte ich sie höhnen das Christentum habe nur ein einziges unter den Völkern erleuchtet und lasse die übrigen unwissend dahinsterben. Aber zugleich hörte ich sie prahlerisch verkünden, Wissenschaft und Fortschritt gebe es nur bei einem einzigen unter den Völkern und die übrigen seien unwissend dahingestorben.

Der Hauptvorwurf, den sie dem Christentum machten, war zugleich das Hauptkompliment, das sie sich selber machten, und ihre Gewichtung der beiden Seiten fiel merkwürdig ungerecht aus, denn was sie forderten, war dies: Beim Blick auf einen Heiden oder Agnostiker dürfen wir nicht vergessen, daß alle Menschen eine einheitliche Religion besitzen; beim Blick auf einen Mystiker oder Spiritualisten sollen wir lediglich feststellen, daß manche Menschen abstruse Religionen haben.

Der Sittenlehre von Epiktet können wir vertrauen, weil sich die Sittlichkeit bis heute nicht geändert hat. Auf die Sittenlehre von Bossuet dürfen wir nicht bauen, weil sich die Sittlichkeit seither geändert hat. Geändert hat sie sich in zweihundert Jahren, nicht aber in zweitausend.

Auszug aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt VI: DIE PARADOXA DES CHRISTENTUMS

Fortsetzung folgt ..


[1] Philosoph der griechischen Antike, Stoiker; seiner Lehre zufolge ist der Mensch von Geburt an ein sittliches Wesen.

[2] Jacques-Benigne Bossuet (1627-1704), französischer Geistlicher und Theologe, von 1670 bis 1681 Erzieher des Dauphins am Hofe Ludwigs xrv:, danach Bischof von Meaux. Bossuet betrieb die Aufhebung des Edikts von Nantes, 1682 verfaßte er die Deklaration des Klerus über die gallikanischen Freiheiten.

 


[1] Thomas Huxley (1825-1895), englischer Zoologe und Naturforscher bereiste Australien und setzte sich für Darwins Abstammungslehre ein. Herbert Spencer (1820-1903), englischer Philosoph und Soziologe, Mitarbeiter des Economist, vertrat noch vor Darwin eine evolutionistische Fortschrittstheorie. Charles B. Bradlaugh (1833-1891), Begründer der Zeitung National Reformer, plädierte für soziale Reformen, unter anderem auch für die Drosselung des Bevölkerungswachstums durch Geburtenkontrolle.

[2] Thomas Paine (1737-1809), englischer revolutionärer Schriftsteller und Unterstützer der amerikanischen Unabhängigkeit, später Deist.

[3] Robert Green Ingersoll (1833-1899), amerikanischer Jurist und Redner, berühmt durch seine öffentlichen Angriffe auf die Bibel.

Erbsünde: beweisbare Theologie

Gewisse Theologen von heute bestreiten die Erbsünde, das einzige Stück der christlichen Theologie, das wirklich beweisbar ist.

Einige Anhänger des Reverend R.J. Campbell*[1], die einer geradezu überkandidelten Spiritualität huldigen, bekennen sich zur göttlichen Sündlosigkeit, deren sie nicht einmal im Traum ansichtig werden können. Dagegen leugnen sie im Kern die menschliche Sündhaftigkeit, die sie an jeder Straßenecke antreffen können. Die bedeutendsten Heiligen wie auch die entschiedensten Skeptiker nahmen die Gegebenheit des Bösen zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen.

Falls es stimmt (und das tut es), dass ein Mensch mit innigem Vergnügen einer Katze bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren zu ziehen vermag, dann zwingt das den religiösen Philosophen zu einem von zwei Schlüssen: Entweder er muss die Existenz Gottes leugnen, wie es die Atheisten machen, oder er muss bestreiten, dass sich der Mensch gegenwärtig im Einklang mit Gott befindet (also sündigt), wie es die Christen machen. Die neuen modernistischen Theologen dagegen scheinen es für eine äußerst kluge Lösung zu halten, die Katze zu leugnen.

Aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt II: Der Besessene


[1] Reginald John Campbell (1867 bis 1956), kongregationalistischer Geistlicher und berühmter Prediger, der christliche Glaubensvorstellungen mit modernen kritischen Ansichten und Überzeugungen in Einklang zu bringen suchte.

[2] Der Modernismus ist eine um 1900 entstandene Richtung in der katholischen Theologie, die danach strebt, die Religion ans moderne Bewusstsein anzupassen, und die den übernatürlichen Charakter von Glaube, Dogma und Kirche bestreitet.

Revolutionäre Christen?

Wie wir schon sahen, lautet eines der Argumente, mit denen begründet wird, warum man für den Fortschritt eintreten soll: dass die Welt von Natur aus immer besser wird. Aber der einzig wahre Grund, ein Fortschrittsanhänger zu sein, besteht doch darin, dass die Welt von Natur aus immer schlimmer wird. Der allgemeine Verfall spricht nicht nur dafür, progressiv zu sein; er spricht auch als einziges dafür, nicht konservativ zu sein.

Gegen den Konservativismus bliebe uns kaum eine Gegenkraft oder Erwiderung, gäbe es nicht dieses eine Faktum. Alles Konservative beruht auf der Vorstellung, dass man, wenn man die Dinge sich selbst überlässt, sie so lässt, wie sie sind. Das tut man aber mitnichten. überlässt man etwas sich selbst, so überlässt man es einem rasanten Wandel. überlässt man einen weißen Pfosten sich selbst, wird er bald schwarz sein. Möchte man unbedingt, dass er weiß bleibt, so muss man ihn immer wieder streichen; das heißt, man muss beständig für eine Revolution sorgen.

Kurz, wer den alten weißen Pfosten will, muss für einen neuen weißen Pfosten sorgen. Trifft dies aber schon auf Unbelebtes zu, so in besonderem und zugespitztem Sinn auf alles Menschliche. Weil menschliche Institutionen so unglaublich schnell veralten, wird jedem Bürger eine fast unnatürliche Wachsamkeit abverlangt. In Groschenromanen und Zeitungsartikeln ist fast immer von Menschen die Rede, die unter einer alten Tyrannei leiden. In Wirklichkeit haben die Menschen aber meist unter neuen Tyranneien gelitten; unter Tyranneien, die kaum zwanzig Jahre zuvor noch bürgerliche Freiheiten waren.

England zum Beispiel bejubelte die „patriotische Monarchie Elisabeths“ -und dann fluchte es (fast unmittelbar danach) unter Karl I. in der Falle der Despotie. In Frankreich wiederum wurde die Monarchie nicht etwa untragbar, nachdem sie ertragen, sondern nachdem sie angebetet worden war. Der guillotinierte Ludwig war der Sohn des von allen geliebten Ludwig XIV. Und im England des 19. Jahrhunderts galt der radikale Fabrikant als vertrauenswürdiger Sprecher des Volkes, bis plötzlich die Sozialisten aufschrieen, er sei ein Tyrann, der sich vom Volk ernähre wie von Brot.

Als letztes sei daran erinnert, dass wir noch unlängst die Zeitungen für vertrauenswürdige Organe der öffentlichen Meinung hielten. Erst jetzt haben manche (nicht allmählich, sondern mit einem Schlag) erkannt, dass davon nicht die Rede sein kann. Die Presse ist – und das liegt in der Natur der Sache – das Hobby einiger reicher Männer.

Wir brauchen also nicht gegen das Alte zu rebellieren; wir müssen gegen das Neue rebellieren. Die neuen Herrschenden, der Kapitalist oder der Verleger, sind die Stützen der Moderne. Es besteht keine Gefahr, dass heutzutage ein König versuchen könnte, die Verfassung außer Kraft zu setzen; wahrscheinlicher ist, dass er sie ignoriert und hinter ihrem Rücken handelt; zugute kommen wird ihm dabei nicht seine königliche Macht, sondern seine königliche Machtlosigkeit, die Tatsache, dass Kritik und Öffentlichkeit ihn nicht erreichen. Denn der König ist die privateste Privatperson unserer Zeit. So erübrigt sich auch der Kampf gegen die gesetzlich geplante Pressezensur. Pressezensur brauchen wir nicht, wir haben die Zensur durch die Presse.

Dass populäre Systeme sich so erschreckend schnell in repressive verwandeln, ist also das dritte Faktum, das unsere perfekte Fortschrittstheorie berücksichtigen sollte. Stets muss sie im Blick haben, wo ein Privileg missbraucht und wo geltendes Recht zu Unrecht wird.

In dieser Frage stehe ich ganz auf Seiten der Verfechter der Revolution. Eigentlich haben sie recht mit ihrem ständigen Misstrauen gegenüber menschlichen Institutionen; sie haben Recht, weder Fürsten noch Menschen überhaupt zu vertrauen. Der politische Führer, der gewählt wurde, um ein Freund des Volkes zu sein, wird zum Feind des Volkes; die Zeitung, die gegründet wurde, um die Wahrheit auszusprechen, ist jetzt dazu da, das Aussprechen der Wahrheit zu verhindern. In diesem Punkt sah ich mich wirklich auf Seiten des Revolutionärs. Und dann hielt ich erneut den Atem an, denn mir fiel ein, dass ich auch diesmal auf Seiten des Orthodoxen stand.

Wieder sprach das Christentum und sagte:

<Immer habe ich geltend gemacht, dass die Menschen von Natur aus rückfällig sind; dass die menschliche Tugend von sich aus zu verkümmern und verrotten droht; immer habe ich gepredigt, dass die Menschen als solche sündig sind, besonders die glücklichen Menschen, besonders die stolzen und wohlhabenden Menschen. Diese ewige Revolution, diesen durch die Jahrhunderte hindurch wach gehaltenen Argwohn, nennst du (als unentschiedener Moderner) die Lehre vom Fortschritt. Wärst du ein Philosoph, würdest du es wie ich die Lehre von der Erbsünde nennen. Nenne es kosmischen Fortschritt, so viel du magst; ich bezeichne es als das, was es ist:  Sündenfall>

 

Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt VII: Die ewige Revolution