Der Verrückte

Der Verrückte ist nicht der Mann, der seinen Verstand verloren hat. Der Verrückte ist derjenige, der alles verloren hat, nur nicht seinen Verstand.

Die Erklärungen eines Verrückten sind immer vollständig und stellen in einem rein verstandesmäßigen Sinne oft zufrieden. Genauer gesagt ist die Erklärung des Geisteskranken zwar vielleicht nicht schlüssig, aber jedenfalls unwiderlegbar; das lässt  sich zumal bei den zwei oder drei geläufigsten Formen der Verrücktheit beobachten.

Aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt II: Der Besessene

Negativer Descartes

Descartes hat gesagt:

»Ich denke, also bin ich.«

Der philosophische Evolutionist dreht den Ausspruch um und verkehrt ihn ins Negative. Er sagt:

»Ich bin nicht; deshalb kann ich denken.«

Aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt III: Der Selbstmord des Denkens

Demut am falschem Fleck

Woran wir aber heute kranken, das ist Demut am falschen Fleck. Die Bescheidenheit hat das Selbstbewusstsein freigegeben und sich stattdessen der Glaubenskraft bemächtigt, wo sie doch nie etwas zu suchen hatte. Der Mensch sollte an sich selbst zweifeln, aber doch nicht an der Wahrheit.

Das hat sich genau ins Gegenteil verkehrt. Heute ist das, worauf der Mensch beharrt, genau der Teil, auf dem er nicht beharren sollte: er selbst. Und das, woran er zweifelt, ist genau der Teil, an dem er nicht zweifeln dürfte: die Vernunft Gottes.

Huxley predigte eine Demut, die sich damit bescheidet, von der Natur zu lernen. Würden wir also vorschnell behaupten, es gebe keine für unsere Zeit charakteristische Demut, wir wären im Irrtum. Es gibt sie in der Tat, aber wie sich herausstellt, ist dies eine Demut, die in der Praxis vergiftender wirkt als die wildesten Selbsterniedrigungen des Asketen.

Die alte Demut war ein Sporn, der den Menschen vorantrieb, kein Nagel im Schuh, der ihn daran hindert, weiterzugehen. Denn die alte Demut ließ den Menschen an seinen Bemühungen zweifeln und brachte ihn so dazu, sich noch ‚mehr anzustrengen. Die neue Demut hingegen lässt ihn an seinen Zielsetzungen zweifeln und veranlasst ihn damit, seine Bemühungen überhaupt einzustellen.

An jeder Straßenecke trifft man auf Menschen, die so verrückt und blasphemisch sind, zu erklären, sie seien vielleicht im Irrtum. Tag für Tag stößt man auf Leute, die einräumen, sie hätten mit ihrer Ansicht möglicherweise unrecht. Dabei muss ihre Ansicht selbstverständlich die richtige sein, sonst wäre es nicht ihre Ansicht. Wir sind auf dem besten Weg, ein Geschlecht hervorzubringen, das so bescheiden ist, dass es nicht einmal mehr an das Einmaleins glaubt.

Uns drohen Philosophen, die am Gravitationsgesetz zweifeln und den Verdacht hegen, es handele sich dabei um ein bloßes Hirngespinst ihrer selbst. Früher waren die Spötter zu stolz, um sich überzeugen zu lassen; heute hingegen sind sie zu bescheiden, um sich eine Überzeugung zuzutrauen. Den Sanftmütigen und Schwachen gehört die Erde, aber die modernen Skeptiker sind sogar zu schwach, um das, was ihnen gehört, in Anspruch zu nehmen. Genau diese intellektuelle Ohnmacht ist unser zweites Problem.

Aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt III: Der Selbstmord des Denkens

Demokratie und Tradition

Ich habe nie verstehen können, wie Menschen zu der Ansicht gelangen, Demokratie und Tradition stünden irgendwie im Gegensatz zueinander.

Es liegt doch auf der Hand, dass Tradition nichts weiter ist als Demokratie in zeitlicher Erstreckung. Tradition baut auf den Einklang gewöhnlicher menschlicher Stimmen statt auf irgendeine vereinzelte oder willkürliche Quelle. Wer zum Beispiel irgendeinen deutschen Historiker gegen die Überlieferung der katholischen Kirche ins Feld führt, der beruft sich auf ein rein aristokratisches Prinzip. Er gibt einem einzelnen Fachmann den Vorrang vor der furchtbaren Überzeugungsmacht einer Masse. Es lässt  sich unschwer einsehen, warum eine Volksüberlieferung mit mehr Ehrfurcht behandelt wird und auch behandelt werden muss als ein Geschichtsbuch.

Die Volksüberlieferung ist normalerweise von der Mehrzahl geistig gesunder Menschen im Dorf geschaffen, während das Buch im Zweifelsfall von dem einzigen Menschen im Dorf geschrieben wird, der verrückt ist. Wer gegen die Tradition geltend macht, dass die Menschen in der Vergangenheit unwissend waren, der gehört inden Cariton Club* , wo er seine Ansichten zum besten geben kann, nebst der Feststellung, dass die Wähler in den Slums Ignoranten sind. Wir können damit nichts anfangen. Wenn wir bei den Alltagsgeschäften der einhelligen Meinung gewöhnlicher Menschen große Bedeutung beimessen, dann ist nicht einzusehen, warum wir diese Meinung gering schätzen sollten, wenn es sich um Geschichte oder Volksüberlieferung handelt.

Tradition lässt  sich als erweitertes Stimmrecht fassen. Tradition bedeutet, dass man der am meisten im Schatten stehenden Klasse, unseren Vorfahren, Stimmrecht verleiht. Tradition ist Demokratie für die Toten. Sie ist die Weigerung, der kleinen, anmaßenden Oligarchie derer, die zufällig gerade auf der Erde wandeln, das Feld zu überlassen. Jeder Demokrat ist dagegen, dass die Menschen durch den Zufall ihrer Geburt Nachteile erleiden; die Tradition verwahrt sich dagegen, dass sie durch den Zufall ihres Todes benachteiligt werden.

Die Demokratie heißt uns, die Meinung keines ehrlichen Mannes zu missachten, selbst wenn es unser Stallknecht ist; die Tradition heißt uns, die Meinung keines ehrlichen Mannes zu missachten, selbst wenn es unser Vater ist. Ich jedenfalls vermag die beiden, Ideen Demokratie und Tradition nicht voneinander zu trennen; mir scheint klar, dass es sich um ein und dieselbe Idee handelt. Bei unseren Beratungen sind die Toten zugegen. Die alten Griechen stimmten mit Steinen ab; jene stimmen mit Grabsteinen ab. All das ist ganz in Ordnung und vorschriftsgemäß, da die meisten Grabsteine wie die meisten Wahlzettel mit einem Kreuz markiert sind.

Aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt IV. DIE ETHIK DES ELFENLANDES

*:Ein streng konservativer politischer Klub, der im Jahre 1832 vom Herzog von Wellington in London gegründet wurde und der heute seine Mitglieder auf strikte Treue gegenüber den Prinzipien der Konservativen Partei vereidigt.

Kleiner Kosmos

Nehmen wir den ziemlich viel sagenden Fall des Materialismus. Als Welterklärung ist der Materialismus von einer irrsinnigen Schlichtheit. Er ist von haargenau derselben Art wie die Argumentation eines Verrückten; er vermittelt gleichzeitig den Eindruck, alles einzubegreifen und nichts zu erfassen.

Schauen wir uns einen kompetenten und ehrlichen Materialisten wie Mr. McCabe[1] an, so lässt er uns genau mit diesem eigentümlichen Gefühl zurück. Er begreift alles, und was er begreift, scheint das Begreifen gar nicht zu lohnen. Sein Kosmos mag bis zum letzten Nietnagel und Zahnrädchen vollständig sein, und doch ist er kleiner als unsere Welt.

Wie der luzide Aufriss des Verrückten scheint auch sein Entwurf von den fremdartigen Kräften und der großen Unbekümmertheit unseres Planeten nichts zu wissen; er weiß nichts von den wirklichen Dingen auf Erden, den kämpfenden Völkern oder stolzen Müttern, der ersten Liebe oder der Todesangst auf dem offenen Meer. Die Erde ist so ungeheuer groß und der Kosmos so außerordentlich klein. Der Kosmos ist so ziemlich das kleinste Loch, in dem ein Mensch seinen Kopf verstecken kann.

Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt II: Der Besessene


[1] Joseph M. McCabe (1867-1955), ein Franziskanermönch, der seinem Glauben abschwor und sein Leben der Aufgabe widmete, im Namen der Vernunft die christliche Religion zu bekämpfen. Chestertons Auseinandersetzung mit McCabe findet sich in Ketzer (Die Andere Bibliothek, Nr.165, Frankfurt a. M. 1998, S.207-221) das, wie er einleitend berichtet, durch die Kritik, die es hervorrief, zum Anlaß für das vorliegende Buch wurde.