Moralismus oder Moralität

Ich sprach vom „Moralismus“ –, daß man fälschlicherweise immer die Moral an den Anfang setzte, die Verhaltensweisen als das Entscheidende ansah, das Gute rangieren ließ vor der Wahrheit, daß sehr viel Kitsch einzog, daß der Wert und die Notwendigkeit des Schönen allzu gering geachtet wurden: man glaubte, all dies würde 1962 überwunden.

„Aha“, sagten viele, „endlich kommt die Zeit einer Vertiefung. Endlich wird die Gemeinde, werden die Gläubigen eingeführt in die Tiefen der Wahrheit. Die Primitivität hört auf, ebenso der Pharisäismus, der falsche Moralismus.

Es wird im echten Sinne Jesu humaner werden. Die Kirche erneuert sich, so daß es sich besser leben und freier atmen läßt im Innenraum der Kirche. Man wird fragen und miteinander reden können über die Geheimnisse des Glaubens. Die Sperrmauer für das Denken wird fallen. Man wird wieder denken und endlich denken dürfen.“ Das alles wähnte man. Und der böse Feind hat die Mißstände im Raum der Seelsorge außerordentlich geschickt genutzt, um in den Gläubigen die Wahnvorstellung zu erzeugen, jetzt hören die Mißstände auf.

Das war natürlich eine Wahnvorstellung; denn statt die Mißstände zu beseitigen, brach nun im ganzen offiziellen Bild der Kirche, im ganzen Innenraum der Kirche, von oben her die Katastrophe ein: die Leugnung des Glaubens, die Verwässerung, der falsche Ökumenismus, die „Beitrags“-Ideologie, die falsche, antichristliche Ideologie vom allgemeinen, humanen Fortschritt, vom kollektiven Menschheitsfortschritt, kollektiver Menschheitsbesserung usw., usw.

Auf dem Vehikel eines falschen Wahns ritt das Verderben. Und das konnte so geschehen, weil sich viele Menschen bedrückt fühlten durch die geistige Unterernährung, durch eine verbreitete Verdummung und durch einen verbreiteten Pharisäismus. Dafür gibt es massenweise Beispiele und selbstverständlich, wenn ich das sage, weiß ich, daß es auch Ausnahmen gab.

Selbstverständlich war das nicht durchweg so, aber weithin so, und wäre das nicht so gewesen, hätten die Zerstörer, die lauernden, keine Chance gehabt. So hatten sie eine Chance. Wenn also die Wende kommt, werden wir diese falschen Bedingungen ausmerzen müssen. Ich habe begonnen, planmäßig darüber zu predigen, wie wir uns katholisch reinigen müssen, im katholischen Sinne unsere Grundeinstellung ändern, den falschen Moralismus ausschalten müssen.

Und ich habe auch schon „Über die Schönheit“ gesprochen. Moralismus ist nicht dasselbe wie Moralität. Selbstverständlich sind wir für die Moral das ist eine Binsenweisheit.

Aber am Anfang steht die Wahrheit. Und dann kommt die Wahrheit, und dann kommt drittens die Wahrheit mit ihren Inhalten, dann kommt lange nichts, und dann kommt wieder die Wahrheit, dann kommen einige Pünktchen –und dann kommt erst die Moral und die Bemühung darum von selber.Denn das Gute ist das, was der Wahrheit gemäß ist. Und wenn Du die Wahrheit geschnappt hast, wirst Du automatisch nach dem Guten streben, ebenso aber auch nach dem Schönen, in Wahrheit Schönen.

Und auch da ist eine ausgesprochene Katastrophe zu verzeichnen, gerade seit dem vorigen Jahrhundert. Das hängt mit dem Einbruch der modernen Technik zusammen, die selbstverständlich ihrer ganzen Anlage und den Voraussetzungen des Menschengeistes gemäß unbewältigt bleiben mußte und immer unbewältigter bleibt.Es ist völlig falsch zu sagen, „sie hätte auch ihr Gutes gebracht“. Im Einzelfall, im Detail sicher, wenn man an medizinische Fortschritte in gewissem Rahmen und unter partiellen Aspekten denkt, gewiß, aber aufs Ganze gesehen hat die industrielle Entwicklung, die Bildung der Industriegesellschaft, die Bildung der Massenmedien und die Bildung der Masse eine fürchterliche seelische Zerrüttung, geistige Reduzierung und Einebnung und eine Verkümmerung des Denkens, eine andauernde Ausschaltung der Elite mit sich geführt.

Wir haben keine geistige Elite und keine geistige Führung mehr. Es ist ein vom Menschlichen her gesehen trostloses Bild, das sich bietet. Und ich sage, gerade mit der Industriegesellschaft, mit der Massenflucht vom Lande in die Stadt usw. hängt zusammen, daß in ganz großem Umfange der Kitsch seinen Einzug hielt. Man kann sagen, das neunzehnte Jahrhundert ist das Geburtsjahrhundert des allgemeinen Kitsches. Damals kamen Gassenhauer auf, Schlager, die Satiren. Von daher trat das Volkslied immer mehr zurück. Mit Gewalt versuchte man immer wieder, altes Brauchtum zu pflegen. Aber das hat oft etwas Krampfhaftes und Gewaltsames an sich und schlägt nicht durch.

An die Stelle von alldem ist banale Sinnlosigkeit und rührselige, falsche Sentimentalität getreten, Lebenslüge. Die Kitschromane kamen damals auf, die Küchenlieder und die falschen, bösen Darstellungen heiliger Gegenstände und Personen. Ich sage mit Absicht „falsch und böse“, nicht der ursprünglichen Absicht der Urheber nach böse, aber in ihrer Wirkung ausgesprochen böse.

Was die Darstellungen Jesu anbetrifft, so haben die einen Schaden angerichtet; man wird Jahrzehnte brauchen, um ganz langsam und planmäßig und mit intensiver Mühe diesen ungeheuren Schaden aus den Seelen auszurotten. Denn ein falsches Bild kann in seiner verheerenden Wirkung überhaupt nicht übertrieben werden. Was, meine Freunde, ist Schönheit? Zweifellos hat die Kunst mit der Schönheit zu tun. Aber was ist wahre Kunst, und wann stellt sie in gültiger Weise Schönheit dar?

Was ist überhaupt in sich Schönheit? Ich habe es schon des öfteren gesagt. Es ist der Glanz des Wesens, also das Durchleuchten dessen, was in der Tiefe des Menschen und aller Dinge, in der Tiefe der Welt und des Seienden ist. Der Gedanke Gottes, der im Urgrund leuchtet, der wird transparent, durchsichtig. Man erkennt das Wesen der Welt und das Wesen der Dinge, Also: Kunst ist die Mitteilung, Sichtbarmachung, Hörbarmachung des Urgegebenen, des unaussprechlich Tiefen, des Unsagbaren. Kunst bringt zum Vorschein wahren Wert und das, was am Anfang gedacht wurde und was im ewigen Wort enthalten ist, aus dem alles hervorgeht. Das ist wahre Kunst.

Zweifellos schildert nun Kunst auch das Gebrochensein, Vernichtung, das Zerreißen, fürchterliches Menschenschicksal. Die Kunst schildert den häßlichen Menschen und eine häßliche Landschaft – wahre Kunst. Schildert sie deshalb die Häßlichkeit als solche? – Sie läßt sich nicht schildern, denn die Häßlichkeit als solche, wie das Böse, das Schlechte, das Falsche in sich, ist gleich Nichts. Das Nichts haftet dem Seienden an. Häßlichkeit haftet also dem Seienden an, d.h. Häßlichkeit bricht das ursprüngliche Wesensbild, Häßlichkeit konterkariert das Aufleuchten des Wesens.

Aber wenn sie in gültiger Weise von der Kunst zum Ausdruck gebracht wird, d.h. nicht die Häßlichkeit als solche, sondern das häßliche Ding, die häßliche Sache, den häßlichen, den zerstörten, den gebrochenen Menschen, dann wird man in der Gebrochenheit: um so stärker wissend werden von dem, was da verlorengegangen ist. Im Verlust wird das Verlorene deutlicher.

Gerade im Verlust, und jeder weiß es, wird auf einmal das Wesen dessen, an das man gewohnt war, viel offenbarer. Und darum wird auch durch die Kunst, wenn sie die Fragwürdigkeit, die Bedrohtheit, die Verlorenheit, die Ausgeliefertheit des Menschenlebens, das schwere, tragische Schicksal, die tragischen, unausweichlichen Verflechtungen, in die ein Mensch geraten kann, schildert, gerade das deutlich, was da bricht und zugrunde geht. Und es leuchtet gerade durch das Gebrochene hindurch das Ursprüngliche, das Wesenhafte und Seinshafte um so deutlicher. In der Sehnsucht und in der Wehmut, die dadurch ausgelöst wird, wird das wache Wissen von dem eigentlichen Sein und Wesen um so stärker.

Denken Sie nur an die realistischen Kreuzigungsdarstellungen. „Keine Schönheit ist an Ihm, keine Gestalt“, heißt es in den Prophetien. Und gerade wenn wir Ihn so sehen, den Inhaber, den Ur-Inhaber der Schönheit, des Lebens, sterbend entstellt, dann wird beim Anblick des Entstelltseins die wehmütige Sehnsucht wach, und wir werden im Mitleiden wissend.

Das ist die Aufgabe der Kunst. Dann ist sie keine Lebenslüge. Dann kommt sie aus der Wahrheit und Wirklichkeit, aus der Tiefe und aus dem Anspruch der Tiefe. Und sie schafft Leiden und Mitleiden aus diesem geweckten Anspruch nach dem Leuchten des Ursprünglichen. Das ist Sinn der Kunst, sei es im Roman, sei es im Gedicht, sei es im Bild, sei es in der Statue.

Und sehen Sie: Schönheit – Glanz des Wesens. Ein Gesicht zu sehen, das Geist, Bedeutung, Feuer, Leidenschaft, Kühnheit, Überwindung, Sieg ausstrahlt, ein solches Gesicht zu sehen ist etwas, was einem den Rücken wieder strafft, was einem wieder Lebensmut gibt. „Ich habe ein Gesicht gesehen“ – ich habe einen Menschen gesehen, in dem der Genius des Ewigen, des Göttlichen durchscheint.

Die Kunst, die menschengesichtige Darstellung hat die Aufgabe, das zum Ausdruck zu bringen und sei es in seiner Gebrochenheit und Entstelltheit, um das Mitleiden zu wirken, durch Mitleid wissend zu werden. Aber wie ist so ein Gesicht? Ich habe schon gelegentlich darüber gesprochen. Sehen Sie, wenn ich mir so manche Fotografie eines großen Künstlers in seiner Jugend anschaue, dann erschrecke ich manchmal über das scheinbar flache, unbedeutende Gesicht. Man ist geradezu schockiert. Das Gesicht scheint nichts Besonderes zum Ausdruck zu bringen.

Dann sieht man das Altersbild – zerfurcht –und dann auf einmal entdeckt man die Bedeutung dieses Menschen. Auf einmal bricht durch, wie aus einer verblühenden Rose, der ganze große Glanz dessen, was vorher verborgen war – so ist es oft im Gesicht –, oder der erste geniale Glanz eines jugendlichen Antlitzes wird durch die banalisierende, einebnende, verödende Gewalt des Alltags verspießert und glatt und bedeutungslos. Wie oft erlebe ich das in meinen seelsorglichen Jahren!

Es ist mir immer ein besonderes Entsetzen, ein Schock, wenn ich ursprünglich verheißungsvolle, junge Gesichter plötzlich sehe im Zeichen von Null und Nichtig. Da ist alles dahin. Da ist alles in Gewohnheit, eingeebnet, und die Eltern kommen jubelnd zu mir und sagen: „Ach, ich habe ihnen eine freudige Mitteilung zu bringen: Endlich ist sie bzw. er anständig geworden“ usw., usw. Aber ich bin ganz und gar nicht jubelnd und froh, sondern total traurig und denke: „Damals, als noch das Chaos waltete, da war noch Chance, denn aus dem Chaos können Sterne geboren werden. Aber jetzt ist er glatt, poliert, rund, brav, alltäglich, langweilig, pflichttreu.“

Nun sagt die Frau Mama: „Nun ja, in die Kirche geht er ja nicht und religiös ist er nicht weiter engagiert, aber Hauptsache anständig.“ – O weh! Das ist die Niederlage auf den Katalaunischen Feldern. Eben nicht „Hauptsache anständig“, Hauptsache Feuer und Leidenschaft. Und man erlebt es hier und da, daß im Alter der verblichene Glanz eines jungen Gesichtes wieder durchkommt durch die Kette erfochtener Siege und gewonnener Schlachten, durch die Gewalt des Leidens. Und das Leiden ist oft ein großer Künstler, welcher den Marmorstein bebaut und behaut. „Bildhauer Gott, schlag zu! Ich bin der Stein“, läßt Konrad Ferdinand Meyer in einem Gedicht den Michelangelo sagen.

Sehen Sie, das ist Kunst! Und wir werden es vertiefen, weil das in einer Predigt nicht getan ist, daß dadurch nicht ein anderes Bewußtsein erzeugt wird, aber das Bedürfnis bei Ihnen, ein anderes Bewußtsein und einen anderen Anspruch in sich hervorzubringen. Sehen Sie, gerade die Darstellungen im vorigen Jahrhundert, die sogenannten künstlerischen Darstellungen Jesu, das waren Serienherstellungen, Klischeeherstellungen, weithin in Fabriken hergestellt, die Buddhas und Herz-Jesu Bilder und Marienbilder in Serienproduktion verkauften. Die Buddhas kamen nach Indien, und europäische Reisende nahmen sie dann von Indien wieder mit nach Hause im Wahn, sie hätten indische Kunst mitgebracht, In Wirklichkeit war es Made in Germany.

Das war etwas ganz Entsetzliches: Diese Klischeebilder waren nach Art eines Anspruches gefertigt, wie er bei den sogenannten Miss-Wahlen zum Ausdruck kommt, wenn die Miss Germany oder die Miss Universum gewählt wird: nach Ebenmäßigkeit genau gemessen, glatte Haut, wohl proportionierte Züge usw. – aber Nullgesichter. (Übrigens nicht alle  solche Schönheitsköniginnen haben Nullgesichter. Das weiß ich auch). Aber danach wird nicht gesehen, ob der Geist sprüht oder nicht, sondern vor allem glatt müssen die Gesichter sein.

Und diese Vorstellung, so müsse man Jesus darstellen – oval, glatt, mit einem Nullgesicht, mit einem wohlgeformten Bärtchen–, hat in den Seelen vieler schon von Jugend an unbewußt die Vorstellung hervorgerufen, so weibisch – nicht weiblich (weiblich ist etwas Herrliches), sondern weibisch –, so nichtssagend, so unmännlich, so ohne Ausstrahlung muß Jesus wohl ausgesehen haben.

Und das lockt natürlich keinen gesunden Hund hinterm Ofen hervor. Und darum sind gerade gebaute Menschen, rechtwinklig gebaute junge Menschen oft, sie wissen selbst nicht warum, ohne Interesse für diese Bereiche, weil unbewußt in ihnen, wenn sie „Jesus“ hören, dieses schaurig nichtssagende, feminine Gesicht vor ihnen auftaucht. Was das für einen Schaden angerichtet hat, ist unabsehbar – vom Jesusknaben ganz zu schweigen, diesem pathologischen Gebilde von einem Jungen mit dem Nachthemdchen, mit einem süßen Mädchenangesicht, eine Palme tragend.

Eltern, die so einen Jungen in die Welt setzen, werden wohl mit Schrecken alsbald dieses Gebilde zum Nervenarzt bringen und fragen, ob da noch was auszurichten wäre. Und das bietet man dann als Vorbild für Bravheit Kindern an, die von ihrem gesunden Instinkt her spielen und raufen und sportlich sein wollen usw. und denen es nicht darauf ankommt, mit wilder Gebärde Grenzen zu überschreiten, was mit Sünde rundherum nichts zu tun hat. Bravheit ist in sich kein moralischer Wert, sondern für sich gesehen ein Element des Langweiligen. Das alles muß eliminiert werden!

Und das war jahrhundertelang nicht so. Da gab es noch keine primitiven Menschen. sondern nur einfache Menschen. Der einfache Mensch ist übrigens etwas Herrliches – herrlich. Aber der primitive Mensch ist etwas Schreckliches. Schauen Sie sich die Kathedralen des Mittelalters an, schauen Sie sich die Gesichter des Christus an, in Stein gehauen! Was ist das für eine Gewalt, die aus diesen Gesichtern herausstrahlt, die Ikonen, die Christusgesichter in der Apsis der Basiliken usw., usw. Durch Jahrhunderte, in der Frühzeit und im hohen Mittelalter und noch bis in die beginnende Neuzeit hinein, war die wahre Kunst selbstverständlich für jeden Menschen da. Sie sangen Volkslieder. Und die Volkslieder sind Elemente höchster Kunst, im dichterischen wie im musikalischen, bis dann auf einmal im neunzehnten Jahrhundert alles zusammenbrach und man von Seiten der Hirten und Lehrer und Priester meinte, das sei ja alles gar nicht so wichtig, Hauptsache sei das fromme Herz, das durch solchen Anblick zu Anmutungen bewegt würde.

Welch ein Irrtum, welch ein grausamer, zerstörerischer Irrtum, der den Massenabfall mitbewirkt hat! Nun werden einige kommen und sagen: „Na, das ist aber immer noch besser als diese modernen Verrücktheiten, nicht wahr, wo man z.B. einen Orang-Utan am Kreuz sieht usw. und wo man überhaupt nicht weiß, wo man dran ist.“ Ich möchte das bezweifeln. Wenn einer eine moderne Verrücktheit sieht, weiß er wenigstens gleich, es ist verrückt. Aber wenn einer Kitsch sieht, meint er, das sei doch immerhin schön. Und vor allem wenn es bunt ist und strahlt und drum herum ein Kranz von Glühbirnen ist, so wie im Jahrmarkt, dann muß es doch schön sein, nicht wahr, dann ist es doch immerhin etwas Anmutendes. Das ist falsch. Das ist kein Vorwurf. An niemanden ist das irgendein Vorwurf, sondern es ist eine Diagnose. Und wir müssen uns hier wandeln.

Vieles muß gewandelt werden, gerade in unseren Reihen, damit, wenn die Stunde X schlägt, der Heilige Geist in der zusammengeschrumpften Kirche eine Phalanx hat solcher, die bereitstehen, nun wirklich etwas Zukunftsträchtiges zu bauen vom Geiste her. Denn der Geist ist das Senfkorn, das alles durchdringen muß, der Sauerteig, der alles durchsäuern muß, der Keim, der wachstumsfähig ist – nicht zu verwechseln mit dem Sauerteig des Schlechten.

Wenn ich nämlich das Gute, das Wahre, Wesenhafte mit dem Schlechten und Falschen vermische, wird immer das Falsche siegen. Ein Tröpfchen Gift vergiftet zwei Liter gute Suppe. Nicht die Mischung mit dem Schlechten, sondern die  Kraft, das vorgegebene Material, das in sich gut ist, ganz zu erneuern und zu verwandeln und zu durchdringen, das ist die Aufgabe im Wahren, im Guten und –ohne Dispens im Schönen. AMEN

Auszug aus einer Predigt von Pfarrer Hans Milch, 1982

Demo für alle!

Nächste DEMO FÜR ALLE: 28. Feb. 14 Uhr Stuttgart

In weniger als drei Wochen ist es wieder so weit! Die nächste DEMO FÜR ALLE steht bevor. Kurz vor der Landtagswahl in Baden-Württemberg wird dies eine besonders wichtige Demonstration. Deshalb müssen wir die Werbetrommel jetzt ordentlich rühren, damit wir unseren letzten Teilnehmerrekord wieder toppen und damit ein ganz klares Zeichen für Ehe und Familie setzen.

Nächste DEMO FÜR ALLE: Sonntag, 28. Februar 2016 um 14 Uhr Schillerplatz/Stuttgart

Präfation zur Fastenzeit

PRÄFATION FUR DIE FASTENZEIT

Es ist in Wahrheit würdig und recht, billig und heilsam, Dir immer und überall dankzusagen, heiliger Herr, allmächtiger Vater, ewiger Gott. Durch das Fasten des Leibes unterdrückst Du die Sünde, erhebst Du den Geist, spendest Tugendkraft und Lohn: durch Christus, unsren Herrn. Durch Ihn loben die Engel Deine Majestät, die Herrschaften beten sie an, die Mächte verehren sie zitternd.

Die Himmel und die himmlischen Kräfte und die seligen Seraphim feiern sie jubelnd im Chore. Mit ihnen, so flehen wir, auch uns einstimmen und voll Ehrfurcht bekennen:

SANTCUS, SANTCUS, SANTCUS

Traditionelles Weihnachten

 

Unsere Kirche feiert verschiedene Feste, welche zum Herzen dringen. Man kann sich kaum etwas Lieblicheres denken als Pfingsten und kaum etwas Ernsteres und Heiligeres als Ostern. Das Traurige und Schwermütige der Karwoche und darauf das Feierliche des Sonntags begleiten uns durch das Leben.

Eines der schönsten Feste feiert die Kirche fast mitten im Winter, wo beinahe die längsten Nächte und kürzesten Tage sind, wo die Sonne am schiefsten gegen unsere Gefilde steht, und Schnee alle Fluren deckt, das Fest der Weihnacht.

Wie in vielen Ländern der Tag vor dem Geburtsfeste des Herrn der Christabend heißt, so heißt er bei uns der heilige Abend, der darauf folgende Tag der heilige Tag und die dazwischen liegende Nacht die Weihnacht. Die katholische Kirche begeht den Christtag als den Tag der Geburt des Heilands mit ihrer allergrößten kirchlichen Feier, in den meisten Gegenden wird schon die Mitternachtstunde als die Geburtsstunde des Herrn mit prangender Nachtfeier geheiligt, zu der die Glocken durch die stille winterliche Mitternachtluft laden, zu der die Bewohner mit Lichtern oder auf dunkeln wohlbekannten Pfaden aus schneeigen Bergen an bereiften Wäldern vorbei und durch knarrende Obstgärten zu der Kirche eilen, aus der die feierlichen Töne kommen, und die aus der Mitte des in beeiste Bäume gehüllten Dorfes mit den langen beleuchteten Fenstern emporragt.

Mit dem Kirchenfeste ist auch ein häusliches verbunden. Es hat sich fast in allen christlichen Ländern verbreitet, daß man den Kindern die Ankunft des Christkindleins – auch eines Kindes, des wunderbarsten, das je auf der Welt war – als ein heiteres glänzendes feierliches Ding zeigt, das durch das ganze Leben fortwirkt und manchmal noch spät im Alter bei trüben schwermütigen oder rührenden Erinnerungen gleichsam als Rückblick in die einstige Zeit mit den bunten schimmernden Fittichen durch den öden traurigen und ausgeleerten Nachthimmel fliegt.

Man pflegt den Kindern die Geschenke zu geben, die das heilige Christkindlein gebracht hat, um ihnen Freude zu machen. Das tut man gewöhnlich am heiligen Abende, wenn die tiefe Dämmerung eingetreten ist. Man zündet Lichter und meistens sehr viele an, die oft mit den kleinen Kerzlein auf den schönen grünen Ästen eines Tannen- oder Fichtenbäumchens schweben, das mitten in der Stube steht. Die Kinder dürfen nicht eher kommen, als bis das Zeichen gegeben wird, daß der heilige Christ zugegen gewesen ist und die Geschenke, die er mitgebracht, hinterlassen hat. Dann geht die Tür auf, die Kleinen dürfen hinein, und bei dem herrlichen schimmernden Lichterglanze sehen sie die Dinge auf dem Baume hängen oder auf dem Tische herumgebreitet, die alle Vorstellungen ihrer Einbildungskraft weit übertreffen, die sie sich nicht anzurühren getrauen, und die sie endlich, wenn sie sie bekommen haben, den ganzen Abend in ihren Ärmchen herumtragen und mit sich in das Bett nehmen.

Wenn sie dann zuweilen in ihre Träume hinein die Glockentöne der Mitternacht hören, durch welche die Großen in die Kirche zur Andacht gerufen werden, dann mag es ihnen sein, als zögen jetzt die Englein durch den Himmel, oder als kehre der heilige Christ nach Hause, welcher nunmehr bei allen Kindern gewesen ist und jedem von ihnen ein herrliches Geschenk hinterbracht hat.

Wenn dann der folgende Tag, der Christtag, kömmt, so ist er ihnen so feierlich, wenn sie frühmorgens mit ihren schönsten Kleidern angetan in der warmen Stube stehen, wenn der Vater und die Mutter sich zum Kirchgang schmücken, wenn zu Mittage ein feierliches Mahl ist, ein besseres als in jedem Tage des ganzen Jahres, und wenn nachmittags oder gegen den Abend hin Freunde und Bekannte kommen, auf den Stühlen und Bänken herumsitzen, miteinander reden und behaglich durch die Fenster in die Wintergegend hinausschauen können, wo entweder die langsamen Flocken niederfallen, oder ein trübender Nebel um die Berge steht, oder die blutrote kalte Sonne hinabsinkt. An verschiedenen Stellen der Stube, entweder auf einem Stühlchen oder auf der Bank oder auf dem Fensterbrettchen liegen die zaubrischen, nun aber schon bekannteren und vertrauteren Geschenke von gestern abend herum.

aus „Bergkristall“ von Adalbert Stifter

Adventlicher Früchtetopf

 

Zutaten:

3 Orangen, 100g Backpflaumen ohne Stein, 100g Datteln, geschälte Mandeln, 1 Flasche Rum 0,7 Liter zu ca. 54 %.

Zubereitung:

a)  Die Orangen schälen und die weiße Haut entfernen. In Scheiben schneiden. Die Datteln aufschneiden, Kern herausnehmen, jeweils 1 Mandel hiheinlegen und zusammendrücken.

b)    Orangenscheiben, Backpflaumen und Datteln schichtweise in ein Glas füllen und mit Rum begießen. Die Früchte müssen dabei ganz bedeckt sein.

c)  Das Glas gut verschließen und eine Zeitlang ruhig stehen lassen.

Solange es das Mysterium gibt, bleiben die Menschen gesund

Der einfache Mensch ist (geistig) gesund, weil er ein Mystiker ist. Er gestattet sich, im Zwielicht zu leben. Seit jeher steht er mit einem Fuß auf der Erde und mit dem anderen im Feenland. Er hat sich stets die Freiheit genommen, an seinen Göttern zu zweifeln; anders als der heutige Agnostiker aber hat er sich auch stets die Freiheit vorbehalten, an sie zu glauben. Wahrheit war ihm immer wichtiger als logische Konsequenz. Stand er vor zwei Wahrheiten, die sich zu widersprechen schienen, so akzeptierte er beide und nahm den Widerspruch in Kauf. Seine spirituelle Sichtweise ist so stereoskopisch wie seine körperliche: er sieht zwei verschiedene Bilder gleichzeitig, was seiner Scharfsicht aber nur zum Vorteil gereicht.

So hat er immer an so etwas wie Schicksal, aber auch immer an so etwas wie den freien Willen geglaubt. So hat er geglaubt, dass den Kindern das Himmelreich gehört, aber auch, dass sie dennoch den irdischen Mächten zu gehorchen haben. Er hat die Jungen wegen ihrer Jugend bewundert und die Alten, weil sie die Jugend hinter sich hatten. Genau in diesem Ausbalancieren scheinbarer Widersprüche bestand die Spannkraft des gesunden Menschen. Das ganze Mysterium der Mystik besteht darin: dass der Mensch alles kraft dessen verstehen kann, was er nicht versteht.

Der kranke Logiker bemüht sich überall um Klarheit und schafft es, alles ins Geheimnis zu hüllen. Der Mystiker findet sich damit, ab, dass es ein einziges Mysterium gibt und schon wird alles andere klar. Der Determinist arbeitet die Theorie der Kausalität bis ins letzte Tüpfelchen aus, nur um festzustellen, dass er nicht einmal mehr zum Dienstmädchen »dürfte ich Sie bitten« sagen kann.

Der Christ akzeptiert, dass die Willensfreiheit ein göttliches Geheimnis bleibt; eben deshalb aber ist sein Verhältnis zum Dienstmädchen so klar und durchsichtig wie Kristall. Er pflanzt den Samen des Dogmas ins Herz der Finsternis; aber der Same keimt und entfaltet sich voller Lebenskraft in alle Richtungen.

Aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt II: Der Besessene

Christliche Paradoxa #01

Nie las ich eine Zeile christlicher Apologetik. Auch heute lese ich davon so wenig wie möglich. Den Weg zur orthodoxen Theologie wiesen mir Huxley, Spencer und Bradlaugh.[1] Sie säten die ersten heftigen Zweifel am Zweifel in meinem Kopf. Unsere Großmütter hatten ganz recht mit ihrer Warnung, Tom Paine[2] und die Freidenker brächten uns nur den Verstand durcheinander. Das stimmt. Meinen brachten sie ganz schrecklich durcheinander.

Ausgerechnet der Rationalist brachte mich auf die Frage, ob Vernunftdenken eigentlich zu etwas nütze ist, und nach der Lektüre von Herbert Spencer war ich (zum ersten Mal) im Zweifel, ob die Evolution überhaupt stattgefunden hat. Als ich den letzten von Colonel Ingersolls[3] atheistischen Vorträgen beiseite legte, schoß mir der grauenvolle Gedanke durch den Kopf: »Fast machst du mich schon zum Christen!« Ich war ganz verzweifelt.

Für diese sonderbare Wirkung der großen Agnostiker – daß sie Zweifel wecken, die tiefer reichen als ihre eigenen – ließen sich viele konkrete Beispiele anführen. Ich beschränke mich auf eines. Als ich all diese nicht- oder antichristlichen Darstellungen des Glaubens, von Huxley bis Bradlaugh, las und immer wieder las, gewann ich langsam, aber spürbar den schrecklichen Eindruck, das Christentum müsse etwas ganz Außergewöhnliches sein. Denn nicht bloß besaß es besonders gefährliche Laster, sondern offenbar (wie mir klar wurde) auch eine mystische Gabe angeblich unvereinbare Laster zusammenzubringen.

Attackiert wurde es von allen Seiten und aus den gegensätzlichsten Gründen. Kaum hatte einer der Rationalisten bewiesen, daß es zu weit im Osten liege, bewies ein anderer nicht weniger klar, es liege zu weit im Westen. Kaum hatte sich meine Empörung, ob seiner schroffen und aggressiven Kantigkeit etwas gelegt, da wurde mein kritischer Blick auf seine verweichlichende und sinnesfreudige Rundheit gelenkt.

Für den Fall, daß jemand unter meinen Lesern dem hier Geschilderten nie begegnet ist, will ich an ein paar willkürlich herausgegriffenen Beispielen veranschaulichen, wie dieser dem Angriff der Skeptiker innewohnende Widerspruch aussieht. Ich beschränke mich auf vier oder fünf; es gibt aber noch fünfzig weitere.

Sehr erregt hat mich etwa die wortgewaltige Anklage, das Christentum sei geprägt von unmenschlicher Schwarzseherei; denn aufrichtigen Pessimismus empfand ich (und empfinde ich noch heute) als unverzeihliches Vergehen. Unaufrichtiger Pessimismus ist eine soziale Errungenschaft, und zwar eine eher angenehme; und glücklicherweise ist fast jeder Pessimismus unaufrichtig. Wäre das Christentum tatsächlich, wie diese Leute behaupten, durch und durch schwarzseherisch und lebensfeindlich, würde ich so fort St. Paul’s Cathedral in die Luft jagen. [Diese Floskel wird wohl heute hundert Jahre später die Aufmerksamkeit sämtlicher westlicher Geheimdienste erregen, damals galt sie wohl noch politisch korrekt; Anmerkung M. Schüler]

Aber nun kommt das Erstaunliche. Im ersten Kapitel bewies man mir (zu meiner großen Genugtuung), daß das Christentum zu pessimistisch ist; im zweiten Kapitel bewies man mir dann, daß es viel zu optimistisch ist. Einerseits warf man dem Christentum vor, mit seinem gräßlichen Heulen und Zähneklappern hindere es die Menschen, am Busen der Natur Freude und Freiheit zu suchen. Andererseits warf man ihm vor, mit seiner frei erfundenen Vorsehung lulle es die Menschen nur ein und verbanne sie in eine rosa-weiße Kinderwelt.

Der eine Agnostiker monierte die christliche Ansicht, die Natur sei von sich aus nicht schön und es falle so schwer, frei zu sein. Ein anderer wandte sich gegen den christlichen Optimismus (»das von frommen Händen gewobene Kleid der Heuchelei«), der uns die Tatsache verberge, daß die Natur häßlich und daß es unmöglich ist, frei zu sein.

Kaum hatte der eine Rationalist das Christentum als Alptraum bezeichnet, kam schon ein anderer und nannte es das Paradies des Toren. Das gab mir zu denken; die Vorwürfe vertrugen sich nicht miteinander. Die christliche Religion, so fand ich, kann nicht gleichzeitig eine schwarze Maske vor einer weißen Welt und eine weiße Maske vor einer schwarzen Welt sein. Die Lage des Christen kann nicht gleichzeitig so behaglich sein, daß es feige ist, daran zu hängen, und so unbehaglich, daß es töricht ist, sie zu ertragen. Wenn das Christentum das Weltbild der Menschen verfälscht, geht das nur auf die eine oder die andere Weise; es kann nicht sowohl eine grüne als auch eine rosa Brille sein.

Damals ließ ich mir, wie alle jungen Männer, Swinburnes höhnisch herausgebrüllte Verse über den Trübsinn der Religion genußvoll auf der Zunge zergehen:

Du hast gesiegt, oh bleicher Galiläer,

die Welt ist heute grau von Deinem Atem.

Aber als ich las, was derselbe Dichter (etwa in Atalanta) über das Heidentum schreibt, begriff ich, daß die Welt wohl noch grauer war, bevor der Atem des Galiläers sie streifte. Dort behauptet Swinburne in abstracto, das Leben schlechthin sei stockfinster. Und dennoch soll das Christentum es verfinstert haben. Ihm hielt er vor, es sei pessimistisch, und dabei war er selbst ein Pessimist. Da konnte doch etwas nicht stimmen.

Und einen schwindelerregenden Augenblick lang schoß mir der Gedanke durch den Kopf, daß das Verhältnis zwischen Religion und Glück von denen, die nach eigenem Bekunden weder das eine noch das andere besitzen, nicht gerade am besten beurteilt werden kann.

Um Missverständnisse zu vermeiden: ich bin damals nicht spornstreichs zu dem Schluß gelangt, die Anklagen seien falsch oder die Ankläger Einfaltspinsel. Ich habe nur gefolgert, das Christentum müsse sehr viel unheimlicher und verruchter sein, als sie es darstellten. Mag sein, daß etwas tatsächlich zwei so entgegengesetzte Laster hat; aber dann ist es einigermaßen sonderbar. Wenn jemand einerseits zu dick und andererseits zu dünn ist, macht er eine seltsame Figur. Zum damaligen Zeitpunkt dachte ich nur an die seltsame Figur der christlichen Religion; ich schloß nicht auf eine seltsame Figur im rationalistischen Denken.

Hier ein zweites Beispiel. Als schlagendes Argument gegen das Christentum empfand ich den Vorwurf, alles »Christliche« habe etwas Ängstliches, Schwächliches und Unmännliches an sich, besonders in seiner Einstellung zum Sich-Wehren und Kämpfen. Die großen Skeptiker des 19. Jahrhunderts waren in der Regel gestandene Männer: Bradlaugh auf seine überschwengliche, Huxley auf seine reservierte Art. Im Vergleich zu ihnen waren die christlichen Maximen tatsächlich gekennzeichnet durch Schwäche und übermäßige Langmut.

Das Evangelium mit seinem Paradox von der anderen Wange, die Tatsache, daß Geistliche nie mit der Waffe kämpfen, dies und vieles andere stützte den Vorwurf, das Christentum sei ein Versuch, Männern“ das Aussehen von Lämmern zu geben. Ich las ihn und glaubte ihn, und hätte ich sonst nichts gelesen, dann hätte ich ihn auch weiterhin geglaubt. Aber plötzlich las ich etwas ganz anderes.

Ich schlug eine Seite in meinem Handbuch für Agnostiker um, und mein Verstand war plötzlich auf den Kopf gestellt. Da erfuhr ich nämlich, ich müsse das Christentum hassen, nicht weil es zu wenig, sondern weil es zu viel kämpfe. Die christliche Religion, so hieß es nun, sei die Mutter aller Kriege. Sie habe die Welt mit Blut überschwemmt. Bisher war ich zornig auf den „Christen“, weil er nie in Zorn gerät. Und jetzt las ich, ich müsse zornig auf ihn sein, weil sein Zorn das Gigantischste und Schrecklichste sei, was die menschliche Geschichte je gesehen habe; weil sein Zorn die Erde getränkt und die Sonne geschwärzt habe.

Dieselben, die dem Christentum vorwarfen, daß seine Klöster auf Gewalt und Widerstand verzichten, hielten ihm zugleich vor, daß seine Kreuzzüge Gewalttätigkeit und Heldenmut forderten. Ihnen zufolge war das arme alte Christentum gleichermaßen daran schuld, daß Eduard der Bekenner nicht gekämpft und daß Richard Löwenherz gekämpft hat. Die Quäker, so lasen wir, sind die einzig typischen Christen; und dennoch sind die von Cromwell und Alba veranstalteten Massaker typisch christliche Verbrechen.

Was sollte das alles heißen? Was mochte das für ein Christentum sein, das unablässig Kriege verbietet und unablässig Kriege zeugt? Wie mochte etwas beschaffen sein, wenn man ihm einerseits vorhalten kann, es kämpfe nicht, und andererseits, es kämpfe unaufhörlich? Aus welcher Rätselwelt stammte diese monströse Mordlust und diese monströse Sanftmut? Von Minute zu Minute sah das Christentum wunderlicher aus.

Und hier ein drittes Beispiel, das sonderbarste von allen, weil es dabei um den einzigen echten Einwand gegen den Glauben geht. Der einzige echte Einwand gegen die christliche Religion lautet schlicht, daß sie eine Religion unter anderen ist.

Die Welt ist groß und voll von Menschen verschiedenster Art. Das Christentum (so kann man argumentieren) ist etwas Bestimmtes und auf bestimmte Menschen begrenzt; es begann in Palästina und kam praktisch über Europa nicht hinaus. In meiner Jugend hat mich dieses, Argument gehörig beeindruckt, und ich war, fasziniert von der in den »Ethischen Gesellschaften« oft gepredigten Doktrin, alle Menschen seien, ohne es zu wissen, vereint in einer einzigen großen Religionsgemeinschaft, die sich auf die Allgegenwart des menschlichen Gewissens gründet.

Glaubenslehren, so hieß es, spalten die Menschheit; die Sittlichkeit hingegen eint sie. Mag die Seele in die fremdartigsten und fernsten Länder und Zeiten ausschwärmen – immer wird sie auf das dem Menschen innewohnende sittliche Gefühl stoßen. Mag sie Konfuzius unter fernöstlichen Bäumen antreffen – er wird dort schreiben: »Du sollst nicht stehlen.« Mag sie die rätselhafteste Hieroglyphe in der ältesten Wüste entziffern einmal enträtselt wird sie bedeuten: »Knaben müssen die Wahrheit sagen.«

Damals glaubte ich an den Grundsatz, daß alle Menschen als sittlich empfindende Wesen Brüder sind, und, ich glaube noch heute daran – wenn es um andere Dinge geht. Und ich war zutiefst empört, weil (wie ich annahm) das Christentum unterstellt, ganze Menschenalter und Reiche hätten dieses Licht der Gerechtigkeit und Vernunft nie gekannt.

Aber dann entdeckte ich etwas Erstaunliches. Ich entdeckte, daß dieselben Leute, die behaupteten, die Menschheit sei – von Platon bis Emerson – eine einzige Religionsgemeinschaft, zugleich behaupteten, die Sittlichkeit habe sich von Grund auf gewandelt und was in der einen Epoche richtig sei, sei in einer anderen falsch.

Fragte ich zum Beispiel nach einem Altar, bekam ich zu hören, wir brauchten keinen, denn die Menschen, unsere Brüder, hätten uns mit ihren allgemeinen Sitten und Idealen unmißverständliche Orakel und einen einheitlichen Glauben hinterlassen. Wies ich jedoch sachte darauf hin, daß es zu diesen allgemeinen Sitten der Menschen gehöre, einen Altar zu haben, vollzogen meine agnostischen Lehrmeister eine schlichte Kehrtwendung und behaupteten, die Menschen hätten immer in Unwissenheit und im Aberglauben der Wilden gelebt.

Täglich hörte ich sie höhnen das Christentum habe nur ein einziges unter den Völkern erleuchtet und lasse die übrigen unwissend dahinsterben. Aber zugleich hörte ich sie prahlerisch verkünden, Wissenschaft und Fortschritt gebe es nur bei einem einzigen unter den Völkern und die übrigen seien unwissend dahingestorben.

Der Hauptvorwurf, den sie dem Christentum machten, war zugleich das Hauptkompliment, das sie sich selber machten, und ihre Gewichtung der beiden Seiten fiel merkwürdig ungerecht aus, denn was sie forderten, war dies: Beim Blick auf einen Heiden oder Agnostiker dürfen wir nicht vergessen, daß alle Menschen eine einheitliche Religion besitzen; beim Blick auf einen Mystiker oder Spiritualisten sollen wir lediglich feststellen, daß manche Menschen abstruse Religionen haben.

Der Sittenlehre von Epiktet können wir vertrauen, weil sich die Sittlichkeit bis heute nicht geändert hat. Auf die Sittenlehre von Bossuet dürfen wir nicht bauen, weil sich die Sittlichkeit seither geändert hat. Geändert hat sie sich in zweihundert Jahren, nicht aber in zweitausend.

Auszug aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt VI: DIE PARADOXA DES CHRISTENTUMS

Fortsetzung folgt ..


[1] Philosoph der griechischen Antike, Stoiker; seiner Lehre zufolge ist der Mensch von Geburt an ein sittliches Wesen.

[2] Jacques-Benigne Bossuet (1627-1704), französischer Geistlicher und Theologe, von 1670 bis 1681 Erzieher des Dauphins am Hofe Ludwigs xrv:, danach Bischof von Meaux. Bossuet betrieb die Aufhebung des Edikts von Nantes, 1682 verfaßte er die Deklaration des Klerus über die gallikanischen Freiheiten.

 


[1] Thomas Huxley (1825-1895), englischer Zoologe und Naturforscher bereiste Australien und setzte sich für Darwins Abstammungslehre ein. Herbert Spencer (1820-1903), englischer Philosoph und Soziologe, Mitarbeiter des Economist, vertrat noch vor Darwin eine evolutionistische Fortschrittstheorie. Charles B. Bradlaugh (1833-1891), Begründer der Zeitung National Reformer, plädierte für soziale Reformen, unter anderem auch für die Drosselung des Bevölkerungswachstums durch Geburtenkontrolle.

[2] Thomas Paine (1737-1809), englischer revolutionärer Schriftsteller und Unterstützer der amerikanischen Unabhängigkeit, später Deist.

[3] Robert Green Ingersoll (1833-1899), amerikanischer Jurist und Redner, berühmt durch seine öffentlichen Angriffe auf die Bibel.