Die moderne Welt ist nicht böse; in mancher Hinsicht ist sie entschieden zu gut. Sie ist voll Wüsten und vergeudeter Tugenden. Wenn ein religiöses System zertrümmert wird (wie das mit dem Christentum in der Reformation geschah), dann führt das nicht nur zu einer Entfesselung der Laster.
Keine Frage, dass die Laster entfesselt werden; sie streifen umher und stiften Schaden. Aber auch die Tugenden werden entfesselt, und sie streifen noch haltloser umher und richten noch schrecklicheren Schaden an.
Die heutige Welt steckt voll von alten christlichen Tugenden, die durchgedreht sind. Sie sind durchgedreht, weil sie auseinander gerissen wurden und allein umherstreifen.
So kümmert sich etwa die Wissenschaft um die Wahrheit; und ihre Wahrheit ist erbarmungslos. Und so interessiert sich die Philanthropie nur fürs Erbarmen, und ihrem Erbarmen fehlt (so leid es mir tut, das sagen zu müssen) oft die Wahrheit.
Mr. Blatchford[1] zum Beispiel greift das Christentum an, weil er verrückt nach einer einzigen christlichen Tugend ist: der für sich genommen mystischen und fast irrationalen Tugend der Barmherzigkeit. Er hegt die merkwürdige Vorstellung, daß es leichter sei, Sünden zu vergeben, wenn man davon ausgeht, daß es gar keine Sünden gibt, die vergeben werden müssten.
Mr. Blatchford ist nicht nur ein Vertreter des Frühchristentums, er ist auch der einzige frühchristliche Mensch, der es wirklich verdient hätte, von den Löwen gefressen zu werden. Denn auf ihn trifft die heidnische Beschuldigung tatsächlich zu: seine Barmherzigkeit liefe auf schiere Anarchie hinaus. Er ist wirklich ein Feind der Menschheit – weil er so menschenfreundlich ist.
Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt III. DER SELBSTMORD DES DENKENS[1] Robert Peel Glanville Blatchford (1851-1943), englischer Sozialreformer, Begründer der Manchester Fabian Society und Herausgeber des Clarion. Zu Chesterton und Blatchford vgl. das Nachwort von Philip Yancey.