Kurze Erzählung vom Antichrist (02)

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Mongolensturm

Das Mongolenjoch

Das zwanzigste Jahrhundert nach der Geburt Christi war das Zeitalter der letzten großen Kriege, innerer Zwiste und Umwälzungen. Der bedeutendste dieser äußeren Kriege war aus jener geistigen Bewegung entstanden, die gegen Ende des neunzehnten Jahrhunderts in Japan aufgekommen war. Man nannte diese Bewegung den Panmongolismus.

In jeder Hinsicht zur Nachahmung begabt, nahmen die Japaner schnell und mit überraschendem Erfolg die äußeren Formen der Kultur Europas an, wobei sie sich auch einige europäische Ideen von untergeordneter Bedeutung zunutze machten. So hatten sie durch Zeitungen und geschichtliche Lehrbücher vom Bestehen des Panhellenismus, Pangermanismus, Panslawismus und Panislamismus in Europa gehört und proklamierten daher ihrerseits die große Idee des Panmongolismus, das heißt der Vereinigung aller Völker Ostasiens unter ihrer Führung. Das Hauptziel dieser Vereinigung sollte der Entscheidungskampf gegen die Fremden, also die Europäer sein.

Unter Ausnützung der Tatsache, daß Europa zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts damit beschäftigt war, der Welt des Islams ein Ende zu bereiten, begannen die Japaner mit der Verwirklichung ihres großen Programms. Sie nahmen zuerst Korea ein, später Peking, wo sie unter Mithilfe der fortschrittlichen Partei Chinas die alte Mandschu-Dynastie stürzten und diese durch eine japanische ersetzten. Es gelang ihnen auch, sich rasch mit den chinesischen Konservativen zu verständigen. Diese begriffen, daß es gut sei, von zwei Übeln das kleinere zu wählen, und daß unter Umständen ein Verwandter auch ein Bruder sein kann.
Die staatliche Unabhängigkeit des alten chinesischen Reiches konnte nicht aufrechterhalten werden; entweder mußte China sich den Europäern oder Japanern unterwerfen. Es lag auf der Hand, daß eine japanische Herrschaft in keiner Weise den Charakter des nationalen Lebens verändern könnte, auch wenn dadurch die äußeren Formen der chinesischen Regierung beseitigt würden, die sich ohnedies vor aller Augen als unzulänglich erwiesen hatten — eine Vorherrschaft europäischer Völker hingegen bedeutete schon aus Politik heraus die Unterstützung der christlichen Mission und bedrohte damit die geistigen Grundlagen Chinas.

Der Nationalhaß der Chinesen gegen die Japaner stammte aus einer Zeit, in der beiden Völkern die Europäer noch unbekannt waren. Mit deren Auftreten in Ostasien mußte diese alte Feindschaft zu einem Bruderzwist und schließlich sinnlos werden. Die Europäer waren völlig Fremde und nur Feinde. Ihre Vorherrschaft konnte in keiner Weise der Eigenliebe der Rasse schmeicheln. In den Händen Japans erblickten die Chinesen hingegen die süße Lockspeise des Panmongolismus, der zugleich in ihren Augen auch die harte Notwendigkeit rechtfertigte, sich äußerlich europäisieren zu müssen.

Ohne Unterlaß sprachen die Japaner auf sie ein: „Eigensinnige Brüder, versteht doch, daß wir die Technik der Hunde aus dem Westen übernehmen, nicht, weil wir eine Vorliebe für sie haben, sondern, um sie mit ihren eigenen Waffen zu schlagen. Wenn Ihr Euch mit uns vereinigt und unserer Führung folgt, werden wir die weißen Teufel nicht nur bald aus Asien verjagt haben, wir werden darüber hinaus ihr eigenes Gebiet erobern und erst das wahre Reich der Mitte begründen, das die Vorherrschaft über die ganze Welt haben wird. Ihr habt recht mit Eurem Nationalstolz und Eurer Verachtung der Europäer, aber es ist nur zu Eurem Schaden, wenn Ihr diese Empfindungen nur durch Träumereien nährt, statt die notwendige Tatkraft zu entfalten. Wir, die Euch in dieser Hinsicht vorausgegangen sind, wir zeigen auch Euch den Weg des gemeinsamen Interesses.

Seht doch, was Euch Eure Politik genutzt hat, jene Politik der Selbstzufriedenheit und des Mißtrauens gegen uns, Eure Freunde und natürlichen Verteidiger! Es hat wenig dazu gefehlt, dass Rußland und England, Deutschland und Frankreich China zur Gänze untereinander aufgeteilt hätten. Eure mit dem Mute eines Tigers vollführten Anschläge haben nur die Wirkung des so kraftlosen Endchens eines Schlangenschwanzes gezeigt.“

Einsichtsvolle Chinesen fanden solche Überlegungen für begründet und auf diese Weise festigte die japanische Dynastie ihre Macht. Sie arbeitete naturgemäß vor allem am Aufbau einer mächtigen Armee und einer starken Flotte. Der größte Teil der japanischen Kriegsmacht wurde nach China verlegt und diente dort als Kader für das neue gewaltige Heer. Die japanischen Offiziere, die das Chinesische sprachen, waren ungleich erfolgreicher in der Ausbildung als die nunmehr entlassenen europäischen Instruktionsoffiziere. Die zahllose Bevölkerung Chinas mit der Mandschurei, der Mongolei und Tibet stellte ein unerschöpfliches Kraftreservoir zur Verfügung.
Nach kurzer Zeit schon konnte der erste Sohn des Himmels aus der japanischen Dynastie die Waffen des neu erstandenen Kaiserreiches siegreich erproben. Er vertrieb die Franzosen aus Tonking und Siam, die Engländer aus Birma und vereinigte ganz Indo-China mit dem Reich der Mitte.

(Fortsetzung folgt)

Die Serie

Mensch und Mystik

Das mystische Moment ist es, was den Menschen im Laufe ihrer Geschichte die Gesundheit erhalten hat. Solange es das Mysterium gibt, bleiben die Menschen gesund; zerstört man es, liefert man sie dem Verfall aus.

Der einfache Mensch ist gesund, weil er ein Mystiker ist. Er gestattet sich, im Zwielicht zu leben. Seit jeher steht er mit einem Fuß auf der Erde und mit dem anderen im Feenland. Er hat sich stets die Freiheit genommen, an seinen Göttern zu zweifeln; anders als der heutige Agnostiker aber hat er sich auch stets die Freiheit vorbehalten, an sie zu glauben. Wahrheit war ihm immer wichtiger als logische Konsequenz. Stand er vor zwei Wahrheiten, die sich zu widersprechen schienen, so akzeptierte er beide und nahm den Widerspruch in Kauf. Seine spirituelle Sichtweise ist so stereoskopisch wie seine körperliche: er sieht zwei verschiedene Bilder gleichzeitig, was seiner Scharfsicht aber nur zum Vorteil gereicht.

So hat er immer an so etwas wie Schicksal, aber auch immer an so etwas wie den freien Willen geglaubt. So hat er geglaubt, dass den Kindern das Himmelreich gehört, aber auch, dass sie dennoch den irdischen Mächten zu gehorchen haben. Er hat die Jungen wegen ihrer Jugend bewundert und die Alten, weil sie die Jugend hinter sich hatten. Genau in diesem Ausbalancieren scheinbarer Widersprüche bestand die Spannkraft des gesunden Menschen. Das ganze Mysterium der Mystik besteht darin: dass der Mensch alles kraft dessen verstehen kann, was er nicht versteht. Der kranke Logiker bemüht sich überall um Klarheit und schafft es, alles ins Geheimnis zu hüllen. Der Mystiker findet sich damit, ab, dass es ein einziges Mysterium gibt und schon wird alles andere klar. Der Determinist arbeitet die Theorie der Kausalität bis ins letzte Tüpfelchen aus, nur um festzustellen, dass er nicht einmal mehr zum Dienstmädchen »dürfte ich Sie bitten« sagen kann. Der Christ akzeptiert, dass die Willensfreiheit ein göttliches Geheimnis bleibt; eben deshalb aber ist sein Verhältnis zum Dienstmädchen so klar und durchsichtig wie Kristall. Er pflanzt den Samen des Dogmas ins Herz der Finsternis; aber der Same keimt und entfaltet sich voller Lebenskraft in alle Richtungen.

Wie wir den Kreis zum Sinnbild der Vernunft und des Irreseins erklärt haben, so erscheint uns das Kreuz bestens geeignet, zugleich das Mysterium und die geistige Gesundheit zu symbolisieren. Der Buddhismus ist zentripetal, das Christentum hingegen zentrifugal: es bricht aus. Denn der Kreis ist seiner Natur nach vollkommen und unendlich, sein Umfang allerdings steht ein für allemal fest: er kann weder größer noch kleiner werden. Das Kreuz dagegen mag zwar im Kern einen Konflikt und Widerspruch enthalten; es kann aber seine vier Arme beliebig ausdehnen, ohne jemals die Form zu verändern. Weil in seinem Zentrum ein Paradox steht, kann das Kreuz wachsen, ohne sich zu verändern. Der Kreis kehrt in sich zurück und ist gebunden. Das Kreuz streckt seine Arme in alle vier Himmelsrichtungen; es ist ein Wegweiser für Menschen, die sich frei bewegen wollen.

Wenn man über diese grundlegenden Dinge spricht, sind allein Symbole von – wenn auch begrenztem – Wert. Ein weiteres Sinnbild aus der natürlichen Welt kann den Platz, den das Mysterium im Blick auf die Menschheit einnimmt, hinlänglich verdeutlichen. Das einzige gottgeschaffene Ding, das wir nicht anschauen können, ist eben dasjenige, in dessen Licht wir alles andere sehen. Wie die Mittagssonne erklärt das Mysterium alles Übrige – dank der Strahlkraft seiner eigenen triumphalen Unsichtbarkeit. Die abgehobene Intellektualität ist nichts als bleichsüchtiger Mondschein, denn sie ist Licht ohne Wärme, Abglanz, den eine tote Welt widerstrahlt. Die Griechen hatten Recht, als sie Apollon zum Gott sowohl der Einbildungskraft als auch der Gesundheit erklärten; er war der Schirmherr der Musen und der Heilkunst.

Über unverzichtbare Glaubenssätze und einen ganz bestimmten Glauben werde ich an späterer Stelle reden. Jene Transzendenz aber, die allen Menschen die Kraft zum Leben schenkt, nimmt im Wesentlichen die Stellung der Sonne am Himmel ein. Wir sind uns ihrer als einer Art von blendender Wirrnis bewusst; sie ist etwas ebenso Strahlendes wie Gestaltloses, ist ebenso sehr Gleißen wie blinder Fleck. Die runde Scheibe des Mondes dagegen ist so klar und eindeutig, so wiederkehrend und unfehlbar wie der euklidische Kreis auf einer Schultafel. Luna ist absolut vernünftig und die Mutter der lunatics, wie man im Englischen die Verrückten nennt

Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt II: Der Besessene