(Fortsetzung: Das Mongolenjoch, Teil2 – zurück – weiter)
Sein Nachfolger – Chinese von der Mutter her – verschmolz in seinem Charakter chinesische List und Schlauheit mit der Wendigkeit und Energie des Japaners. Er mobilisierte in Chinesisch-Turkestan eine Armee von vier Millionen Mann. Während das Zun-li-jamyn dem russischen Gesandten vertraulich mitteilte, diese Armee sei zur Eroberung Indiens bestimmt, drang der Kaiser in das russische Zentralasien ein, brachte dort die ganze Bevölkerung in Aufruhr, überschritt in Eilmärschen den Ural und überflutete mit seinen Heeresmassen Ost- und Mittelrußland. Russische Truppen aus Polen und Litauen, aus Kiew und Wilna, aus Petersburg und Finnland wurden in aller Eile alarmiert und zusammengezogen.
Da der Kriegsplan vorher nicht mehr festgelegt werden konnte, und auch der Feind an Zahl außerordentlich überlegen war, konnten die russischen Truppen ihre kriegerischen Vorzüge nur in einer wenigstens ehrenvollen Niederlage erweisen. Die Wucht des Angriffs ließ ihnen keine Zeit für einen geordneten Aufmarsch: Ein Armeekorps nach dem anderen wurde in blutigen und verzweifelten Kämpfen vernichtet. Zwar bezahlten auch die Mongolen diesen Sieg teuer, doch konnten sie ihre Verluste mühelos ersetzen; sie waren im Besitz aller Eisenbahnlinien Asiens, während eine russische Armee von zweihunderttausend Mann, die schon seit langem an der mandschurischen Grenze bereitstand, den mißlungenen Versuch machte, in das geschickt verteidigte China einzubrechen.
Der Kaiser ließ einen Teil seines Heeres in Rußland zurück, der dort die Bildung neuer Streitkräfte verhindern und die sich rasch vermehrenden Partisanenverbände verfolgen sollte, mit drei Armeen aber überschritt er selbst die Grenze Deutschlands. Hier hatte man indessen Zeit gefunden, den Widerstand vorzubereiten: Eine der mongolischen Armeen wurde vernichtend geschlagen. Aber in Frankreich gewann damals eine Partei verspäteter Revanche die Oberhand, und alsbald hatten die Deutschen eine Million Bajonette im Rücken. Die deutsche Armee geriet zwischen Hammer und Amboß. Sie sah sich gezwungen, die ehrenvollen Bedingungen der Entwaffnung anzunehmen, die ihr der Sohn des Himmels anbot.
Die Franzosen triumphierten. Sie verbrüderten sich mit den Gelben und ergossen sich über ganz Deutschland. Rasch verloren sie jedoch jede militärische Disziplin. Der Sohn des Himmels befahl seinen Truppen, die nun lästigen Bundesgenossen zu vernichten; dieser Befehl wurde mit chinesischer Gründlichkeit durchgeführt. In Paris brach ein Aufstand der Kommune aus, und freudig öffnete die Hauptstadt der westlichen Kultur ihre Tore dem Beherrscher des Ostens.
Nachdem der Sohn des Himmels so seine Neugierde befriedigt hatte, wandte er sich nach dem Kanalhafen Boulogne. Unter dem Schutze einer aus dem Pazifik eingelaufenen Flotte wurde dort eine Armada ausgerüstet, welche die mongolische Armee nach Großbritannien übersetzen sollte.
Seine Geldnot benutzten die Engländer, um sich mit einer Milliarde Pfund Sterling von einer solchen Invasion loszukaufen. Im Verlaufe eines einzigen Jahres waren alle europäischen Staaten zu Satelliten des Herrschers Asiens geworden. Nun kehrte er unter Zurücklassung einer aus- reichenden Besatzungsarmee nach dem Osten zurück, um eine Landungsexpedition gegen Amerika und Australien zu unternehmen. Indessen geht Europa einem halben Jahrhundert des neuen Mongolenjochs entgegen.
Das Geistesleben dieser Epoche war durch eine allgemeine Vermischung gekennzeichnet, nämlich eine tiefe und wechselseitige Durchdringung europäischer und orientalischer Ideen. Kurz, es wiederholte sich im großen der antike Synkretismus nach dem Tode Alexanders. — In den äußeren Bezirken des Lebens bestimmten diese Epoche drei Tatsachen: Das Einströmen chinesischer und japanischer Arbeiter verschärfte die soziale Frage erheblich. Ihre Lösung versuchten die herrschenden Klassen durch Kompromisse zu erreichen, ohne das Übel mit der Wurzel zu beseitigen. Gleichzeitig bildeten sich Geheimorganisationen, die sich international verbanden, um die Mongolen zu vertreiben und die Unabhängigkeit Europas wiederherzustellen.
Diese gewaltige Verschwörung, an der sich auch die nationalen Regierungen beteiligten – soweit dies unter der Kontrolle der mongolischen Statthalter möglich war – wurde meisterhaft vorbereitet und gelang glänzend. Zur vereinbarten Stunde begann die Niedermetzelung der mongolischen Soldaten. Auch die asiatischen Arbeiter wurden getötet oder vertrieben. Überall kamen Kader europäischer Armeen zum Vorschein, die bis dahin im geheimen gearbeitet hatten. Die allgemeine Mobilmachung wurde nach einem seit langem bis in alle Einzelheiten vorbereiteten Plan durchgeführt.
Der neue Sohn des Himmels, ein Enkel des großen Eroberers, verließ China, um sich in aller Eile nach Rußland zu begeben. Dort aber wurden seine unzähligen Streitkräfte von der Armee des Vereinigten Europa vernichtend geschlagen. Ihre zerstreuten Überreste kehrten nach Innerasien zurück. Europa war befreit. Die fünfzigjährige Unterjochung durch die Barbaren Asiens war die Folge der Uneinigkeit eigensüchtiger Nationalstaaten, seine große und ruhmreiche Befreiung hingegen der Erfolg einer internationalen Organisation, in der die Kräfte des ganzen Europa sich vereinigt hatten. Diese wichtige Erfahrung hatte daher auch ihre natürliche Auswirkung. Der bisherige einzelstaatliche Nationalismus verlor allgemein an Bedeutung. Zugleich stürzten fast überall die letzten Reste alter monarchischer Einrichtungen zusammen.
Im einundzwanzigsten Jahrhundert war Europa zu einer Union von mehr oder weniger demokratischen Staaten geworden: den Vereinigten Staaten von Europa.
Die Entwicklung der Zivilisation war durch den Einfall der Mongolen und durch die Anstrengungen des Befreiungskampfes gehemmt worden; nun nahm sie einen raschen Aufschwung. Die ewigen Fragen des Menschengeistes nach dem Sinn des Lebens, dem Tod und dem endlichen Schicksal der Welt waren durch die neuesten Erkenntnisse auf dem Gebiete der Physiologie und Psychologie nur noch verwickelter geworden und blieben immer noch ungelöst. Nur ein einziges, wenn auch negatives Resultat trat offen zutage: der völlige Zusammenbruch des theoretischen Materialismus.
Es konnte einen denkenden Menschen nicht mehr befriedigen, sich das Weltall als ein System kreisender Atome vorzustellen oder das Geheimnis des Lebens sich mechanisch und als Summe kleinster Veränderungen in der Materie zu erklären. Die Menschheit hatte für immer den Zustand der philosophischen Unmündigkeit hinter sich gelassen. Zugleich waren die Menschen auch über den naiven Kinderglauben, der auf die Vernunft verzichtet, hinausgewachsen.
Auch in den Elementarschulen wurde nicht mehr gelehrt, Gott habe die Welt aus dem Nichts geschaffen. Über diese Dinge waren die Auffassungen anspruchsvoller geworden und kein Dogmatismus durfte mehr unter dieses Niveau herabsinken. Aber wenn auch die Masse der denkenden Menschen jeden Glauben verloren hatte, so sahen im Gegensatz dazu die wenigen Gläubigen die Notwendigkeit ein, Denker zu werden. Sie befolgten das Wort des Apostels: „Seid Kinder dem Herzen nach, nicht nach dem Geiste!“
(Fortsetzung folgt)