Purgatorium

Dante Fegefeuer

Liebe Mitbrüder, Brüder und Schwestern im Herrn,

Für Martin Luther war das  Fegfeuer ein Gespenst des Teufels. Diese Ansicht mag damit zusammenhängen, dass  zu seiner Zeit die Lehre der Kirche über das Fegfeuer verdunkelt und verworren  dargestellt wurde, obwohl es schon als Dogma vorlag. Das Konzil von Trient  (1545-1563) hat unter anderm auch darauf reagiert und am 3. Dezember 1563 in  einem Dekret folgendes festgehalten: “Da die katholische Kirche, vom Heiligen  Geist belehrt, aufgrund der heiligen Schriften und der alten Überlieferung der  Väter auf den heiligen Konzilien und zuletzt auf diesem ökumenischen Konzil  gelehrt hat, es gebe einen Reinigungsort (purgatorium) und den dort  festgehaltenen Seelen werde durch die Fürbitte der Gläubigen, vor allem aber  durch das wohlgefällige Opfer des Altares geholfen: so gebietet das heilige  Konzil den Bischöfen, sorgsam darum bedacht zu sein, dass die von den heiligen  Vätern und den heiligen Konzilien überlieferte gesunde Lehre vom Reinigungsort  von den Christgläubigen geglaubt, festgehalten, gelehrt und überall verkündet  werde.”

Das Konzil fügt sodann die Worte bei: Sie – die Bischöfe – sollen “nicht  zulassen, dass Unsicheres oder was am Schein der Falschheit krankt, unters  Volk gebracht und behandelt wird. Das aber, was zu einer gewissen Neugierde oder  zum Aberglauben gehört oder nach schändlichem Gewinn schmeckt, sollen sie als  Ärgernis und Anstoß für die Gläubigen verbieten.”

Die Lehre der Kirche über das  Fegfeuer, das Purgatorium, ist eine Lehre de fide, ein Dogma, eine  unveräußerliche Glaubenswahrheit. Je mehr wir uns in diese Lehre vertiefen,  desto mehr wird uns bewusst, dass die Wirklichkeit des Purgatoriums nicht ein  “Gespenst des Teufels” ist, sondern ein Ausdruck und Erweis von Gottes  Barmherzigkeit und Liebe. Denn, wie wir es in der Lesung aus der Offenbarung des  Johannes eben gehört haben, werden die Toten von ihren Werken begleitet (Offb  14,13). Das, was der Mensch in diesem Leben getan hat, wirkt über dieses Leben  hinaus. Natürlich meint Johannes damit die guten Werke, welche von den Mühen  dieses Lebens Ruhe verschaffen. Ergänzend dazu stehen die Worte des Apostels  Paulus aus dem Zweiten Korintherbrief (5,6-10). Er spricht vom Richterstuhl  Christi, vor dem wir offenbar werden müssen, damit jeder seinen Lohn empfängt  für das Gute oder Böse, das er im irdischen Leben getan hat. Es begleiten uns  somit nicht nur die guten sondern auch die bösen Werke. Der Mensch wird auf  Grund dieser Werke gerichtet.

Es ist nun trostvoll zu wissen, dass für den  Mensch auch vor dem Richterstuhl Christi nicht alles verloren ist. Der Herr  offenbart auch da seine Barmherzigkeit, die sich eben darin erweist, dass die  Seele, die noch von der Sünde gezeichnet, die aber in Reue über das Böse in  ihrem Leben aus der Welt geschieden ist, die Gnade der Läuterung empfängt. Das  ist auch der Grund, weshalb die Kirche seit ihren Anfängen für die Verstorbenen  betet. Würde diese Gnade der Läuterung nicht gewährt, wäre das Gebet für die  Verstorbenen unnütz. Da die Kirche aber durch den Heiligen Geist geführt und  geleitet wird, ist diese Lehre, die ihre Grundlage im Alten Testament findet  (vgl. 2 Makk 12,45), eine sichere Lehre, aber ebenso eine trostvolle Lehre.

Zum  Schaden der Seelen wird die Lehre der Kirche über das Purgatorium heute oft in  den Hintergrund gedrängt, so dass das Gebet und das Messopfer für die  Verstorbenen vernachlässig werden. Wir dürfen nicht in einer unheilvollen  Oberflächlichkeit die Meinung vertreten, das Totengedenken müsste zu einer  Auferstehungsfeier werden, und das Fürbittgebet für die Verstorbenen wäre  durch den Osterjubel zu ersetzen. Der Tod soll im Licht der Auferstehung  betrachtet werden, und wir müssen auch im Angesicht des Todes auf den  Auferstandenen blicken, da wir zur Auferstehung mit ihm bestimmt sind. Doch eben  weil wir zur Auferstehung bestimmt sind, sind wir zur Heiligkeit bestimmt, und  die Heiligkeit wiederum erfordert den sündenlosen Zustand der Seele, worüber nur  Gott urteilen kann. Uns ist es dagegen aufgetragen für die Lebenden und für die  Verstorbenen zu beten, damit sie, von Sünde und Schuld befreit, das Ziel  erreichen, von dem der Herr eben im Evangelium gesprochen hat: “Denn es ist der  Wille meines Vaters, dass alle, die den Sohn sehen und an ihn glauben, das ewige  Leben haben und dass ich sie auferwecke am Letzten Tag” (Joh 6,40). In diesem  Willen des Vaters finden wir den letzten Grund für das Gebet zur Heiligung der  Seelen im Fegfeuer und zu ihrer Befreiung aus dem zustand der Läuterung.

Möge  der Herr die Seelen unserer Verstorbenen in den Chor der Heiligen aufnehmen und  ihnen Anteil am ewigen Lobe Gottes schenken, an jenem dreifachen Sanctus, das  die Engel in Ehrfurcht und Liebe in ununterbrochenem Gesang bekennen. Amen.

Quelle: „Homilie von Bischof Vitus anlässlich der Jahrzeit aller Churer Bischöfe am 10. Februar 2012“