Kurze Erzählung vom Antichrist (04): Der Übermensch

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Der Übermensch

In jener Zeit trat unter diesen Gläubigen ein bedeutender Mann auf – viele hielten ihn für einen Übermenschen, – der weder einen primitiven Geist besaß, noch auch freilich dem Herzen nach ein Kind war. Obgleich er erst dreiunddreißig Jahre zählte, war er durch seinen Genius schon als Denker, Schriftsteller und Sozialreformer berühmt. Trotzdem er um seine große Begabung wußte, unterwarf er sich aus Überzeugung den Geboten des Geistes. So ließ ihn sein klarer Verstand stets auch die Wahrheit des Glaubens erkennen, des Glaubens an das Gute, an Gottes Dasein und an die Offenbarung des Messias. Er glaubte an dies alles, aber er liebte nur sich selbst. Er glaubte an Gott, doch im Abgrund seines Herzens gab er sich selbst unwillkürlich und ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, vor Gott den Vorzug.

Er glaubte auch an das Gute, doch das Auge der Ewigkeit, dem nichts verborgen bleibt, sah, daß dieser Mensch sich vor der Macht des Bösen beugen würde, wenn diese ihn nur zu verführen wüßte – nicht durch Befriedigung von Gefühlen und niederen Leidenschaften, nicht einmal durch die gefährliche Versuchung der Macht – sondern allein dadurch, daß sie seiner maßlosen Selbstliebe schmeicheln würde.

Diese Selbstliebe war aber weder ein instinktiver Drang, noch eine sinnlose Anmaßung. Denn seine außerordentlichen Gaben, seine Schönheit, sein vornehmes Wesen schienen zusammen mit zahlreichen Beweisen von Enthaltsamkeit, Uneigennützigkeit und Wohltätigkeit genügend die ungeheure Selbstliebe zu rechtfertigen, die den Charakter dieses großen Spiritualisten, Asketen und Menschenfreundes bestimmte. Wer hätte ihn anklagen dürfen, daß er in der Fülle dieser Gottesgaben ein sichtbares Zeichen der Auserwählung von oben her erblickte und sich als den Zweiten nach Gott, als den in seiner Art einzigen Sohn Gottes ansah? Mit einem Wort, er hielt sich für Jenen, der in Wahrheit Christus allein ist.

Doch das Bewußtsein seiner hohen Würde war für ihn nicht eine sittliche Verpflichtung gegenüber Gott und der Welt, vielmehr ein Vorrecht gegenüber seinen Nächsten und vor allem gegenüber Christus. Nicht, daß er von Anfang an Jesus gehaßt hätte, nein, er anerkannte dessen messianische Berufung und Würde. In gutem Glauben sah er in Ihm nur seinen großen Vorläufer. Diesem von der Selbstliebe trunkenen Verstand blieb die sittliche Sendung und die einzigartige Erscheinung Christi unfaßbar.

Er urteilte so: „Christus ist vor mir gekommen, ich komme als zweiter. Was aber in der Zeit nachfolgt, ist seinem Wesen nach übergeordnet. Ich komme am Ende der Geschichte, weil ich der vollkommene und endgültige Erlöser bin. Der erste Christus ist mein Vorläufer. Seine Aufgabe war, mir vorauszugehen und meine Erscheinung vorzubereiten.“

Daher bezog der große Mann des einundzwanzigsten Jahrhunderts alles auf sich, was im Evangelium von der Wiederkunft des Herrn gesagt wird. Er erklärte diese Wiederkunft nicht als die Rückkehr des ersten Christus, sondern so, daß nunmehr der Vorläufer durch den wahren Christus ersetzt würde, nämlich durch ihn selbst.
Auf dieser Stufe des Selbstbewußtseins war der kommende Mann noch wenig originell und charakteristisch. Auch Mohammed hatte sein Verhältnis zu Christus ähnlich aufgefaßt. Und Mohammed war gerecht und konnte keiner bösen Absicht bezichtigt werden.

Im übrigen suchte dieser Mensch seine Selbsteinschätzung, mit der er sich über Christus erhob, noch durch folgende Überlegung zu rechtfertigen: „Christus hat durch Predigt und lebendiges Beispiel des Sittengesetzes die Menschheit gebessert. Ich aber bin ausersehen, der Beglücker aller Menschen zu sein, seien sie schon gebessert, seien sie unverbesserlich.

Ich werde allen Menschen das geben, dessen sie bedürfen. Christus hat als Moralist die Menschen nach Guten und Bösen geschieden, ich aber werde sie durch Wohltaten wieder vereinigen, die sowohl die Guten als auch die Bösen nötig haben. Ich werde der wahre Statthalter Gottes sein, der seine Sonne scheinen läßt für Gute und Böse in gleicher Weise, der Regen spendet den Gerechten und Ungerechten. Christus hat das Schwert gebracht, ich hingegen werde den Frieden bringen. Er bedrohte die Erde mit der Furchtbarkeit des Jüngsten Gerichtes, ich aber werde der letzte Richter sein und mein Gericht wird nicht nur Gerechtigkeit, sondern vor allem Gnade offenbaren. Gewiß wird auch mein Urteil gerecht sein, doch ich will nicht vergelten, sondern schenken. Ich kenne jeden, wie er ist, und werde ihm nach seiner Bedürftigkeit zuteilen.“

In dieser erhabenen Stimmung erwartet er, Gott werde ihn ausdrücklich zu neuer Heilstat an der Menschheit berufen. Er erwartet ein sichtbares und leuchtendes Zeichen, das ihm als dem ältesten Sohn, dem geliebten Erstgeborenen Gottes Zeugnis geben werde. Er wartet und nährt seine Selbstliebe durch das Bewußtsein seiner Tugenden und seiner übernatürlichen Gaben. Denn er war ja der Mensch ohne Tadel und der Inbegriff der Genialität.

So erwartet dieser stolze Gerechte die Anerkennung des Höchsten, um die Errettung der Menschheit zu beginnen. — Aber er wird des Wartens müde. Er ist schon dreißig Jahre, doch noch vergehen drei Jahre. Da durchzuckt ihn ein Gedanke wie ein Fieberschauer bis ins Mark der Knochen: „Aber wenn? … Wenn nicht ich es wäre, sondern der andere? … Der Galiläer? … Wenn er doch nicht mein Vorläufer wäre, sondern der Wahre, der Erste und der Letzte: … Aber dann müßt Er ja leben … Wo aber ist Er? … Könnte Er nicht zu mir kommen? … Gleich, hier? … Was würde ich zu Ihm sagen? Ich müßte mich vor ihm beugen wie der einfältigste Christ … Wie ein russischer Bauer ohne Verstand murmeln: ‚Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner Sünden‘, … oder ich müßte mich wie ein Polenweib mit ausgebreiteten Armen vor Ihm zu Boden werfen. – Ich, der erhabene Genius, ich, der Übermensch … Nein, niemals!“

Aus seinem Herzen erhebt sich das Entsetzen und verdrängt die einstige kalte und vernünftige Achtung vor Gott. Es wächst immer mehr an und schlägt endlich in verzehrenden Neid um, der ihn bedrückt und sein ganzes Wesen erfaßt. Ein wütender Haß flammt in ihm auf: „Ich, ich bin es – nicht Er! Er ist gar nicht mehr unter den Lebenden und niemals mehr wird Er unter ihnen weilen, nie ist Er auferstanden! Verwest ist Er, verfault im Grabe wie der letzte …“

(Fortsetzung folgt)

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