>Liberale< Geistliche und die Wunder

Aus irgendeinem erstaunlichen Grund hält sich die fixe Idee, es sei liberaler, nicht an Wunder zu glauben, als an sie zu glauben. Warum, kann ich mir nicht vorstellen, es kann mir auch niemand sagen.

Aus irgendeinem unfassbaren Grund versteht man unter dem »liberalen« Geistlichen immer denjenigen, der die Zahl der Wunder wenigstens zu verkleinern sucht; nie meint man damit denjenigen, der diese Zahl vergrößern möchte. Immer ist es jemand, der sich die Freiheit nimmt, nicht zu glauben, dass Christus Seinem Grab entstiegen ist; nie ist es einer, der sich die Freiheit nimmt zu glauben, dass seine Tante ihrem Grab entstiegen ist.

Nicht selten entsteht Unruhe in einer Gemeinde, weil der Pfarrer nicht einräumen mag, dass Petrus auf dem Wasser wandelte; doch wie selten entsteht Unruhe in einer Gemeinde, weil der Geistliche sagt, sein Vater sei auf dem Serpentine[1] gewandelt?

Und das nicht etwa, weil (wie der wendige Antiklerikale sofort entgegnen würde) man Wunder nicht aus Erfahrung glauben kann. Nicht etwa, weil »keine Wunder geschehen«, wie Matthew Arnold das Dogma treuherzig nachbetet. Dem Vernehmen nach geschieht in der heutigen Zeit mehr Übernatürliches, als man noch vor achtzig Jahren für möglich gehalten hätte. Wissenschaftler glauben leichter als früher an solche Wunderdinge: In der modernen Psychologie werden pausenlos die erstaunlichsten, ja schrecklichsten Wundertaten enthüllt, die Seele und Geist vollbracht haben sollen.

Geschehnisse, die zumindest die alte Wissenschaft unverblümt als bloße Mirakel verworfen hätte, werden von der neuen Wissenschaft stündlich als Tatsache behauptet. Die einzige Lehre, die noch heute so altmodisch ist, dass sie Wunder verwirft, ist die Neue Theologie.

Aber der Vorsatz, sich die »Freiheit« zur Ablehnung von Wundern zu nehmen, hat eigentlich nichts mit einer Beweisführung für oder gegen sie zu tun. Er ist ein lebloses, phrasenhaftes Vorurteil, das ursprünglich nicht aus der Freiheit des Denkens, sondern aus dem Dogma des Materialismus lebte.

Der Mensch des 19. Jahrhunderts zweifelte an der Auferstehung nicht etwa deshalb, weil sein liberales Christentum ihm diesen Zweifel gestattete. Er tat es, weil sein übertrieben strenger Materialismus ihm nicht gestattete, daran zu glauben.

Tennyson hat, als typischer Vertreter des 19. Jahrhunderts, eine der spontanen Wahrheiten seiner Zeitgenossen ausgesprochen, als er sagte, in ihrem redlichen Zweifel stecke ein fester Glaube. So ist es. Dieser Satz enthält eine abgrundtiefe, ja grauenvolle Wahrheit. In ihrem Zweifel an göttlichen Wundern steckte der Glaube an ein unverrückbares und gottloses Schicksal; der echte und aufrichtige Glaube an den unveränderlichen Gang des Kosmos. Die Zweifel des Agnostikers waren nichts anderes als die Dogmen des Monisten.

Von der empirischen Nachweisbarkeit des Übernatürlichen will ich weiter unten handeln. Hier geht es nur um den einen, klar umrissenen Punkt: Da sich die liberale Freiheitsidee in der Debatte über Wunder auf beiden Seiten finden lässt, ist sie offenkundig auf Seiten der Wunder. Reform oder Fortschritt, im einzig zulässigen Sinn, heißt nichts anderes als die allmähliche Beherrschung der Materie durch den Geist. Ein Wunder ist nichts anderes als die plötzliche Beherrschung der Materie durch den Geist.

Wer dem Volk zu essen geben will, mag die wundersame Speisung der Menschen mitten in der Wüste für unmöglich halten – für illiberal aber kann er sie nicht halten. Wer dafür sorgen will, dass mittellose Kinder ans Meer fahren können, kann es nicht illiberal finden, wenn sie auf fliegenden Drachen reisen; er kann es bloß unwahrscheinlich finden.

Ein Urlaubstag wie der Liberalismus bedeutet nichts als die Freiheit des Menschen. Ein Wunder bedeutet nichts als die Freiheit Gottes. Das eine wie das andere kann man aus Gewissensgründen ablehnen, aber diese Ablehnung lässt  sich nicht als Sieg der liberalen Idee bezeichnen.

Die katholische Kirche war überzeugt, dass Mensch und Gott ihre je besondere geistige Freiheit besitzen. Der Calvinismus hat dem Menschen die Freiheit genommen, sie Gott aber gelassen. Der wissenschaftliche Materialismus bindet selbst dem Schöpfer die Hände; er legt Gott in Fesseln, wie die Apokalypse den Teufel in Fesseln legte. Im ganzen Universum lässt er nichts Freies übrig. Und diejenigen, die diesen Prozess noch befördern, nennt man die »liberalen Theologen«.

aus G.K.Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt 8


[1] Ein See am Ende eines Kanals im Londoner Hyde Park