Woran wir aber heute kranken, das ist Demut am falschen Fleck. Die Bescheidenheit hat das Selbstbewusstsein freigegeben und sich stattdessen der Glaubenskraft bemächtigt, wo sie doch nie etwas zu suchen hatte. Der Mensch sollte an sich selbst zweifeln, aber doch nicht an der Wahrheit.
Das hat sich genau ins Gegenteil verkehrt. Heute ist das, worauf der Mensch beharrt, genau der Teil, auf dem er nicht beharren sollte: er selbst. Und das, woran er zweifelt, ist genau der Teil, an dem er nicht zweifeln dürfte: die Vernunft Gottes.
Huxley predigte eine Demut, die sich damit bescheidet, von der Natur zu lernen. Würden wir also vorschnell behaupten, es gebe keine für unsere Zeit charakteristische Demut, wir wären im Irrtum. Es gibt sie in der Tat, aber wie sich herausstellt, ist dies eine Demut, die in der Praxis vergiftender wirkt als die wildesten Selbsterniedrigungen des Asketen.
Die alte Demut war ein Sporn, der den Menschen vorantrieb, kein Nagel im Schuh, der ihn daran hindert, weiterzugehen. Denn die alte Demut ließ den Menschen an seinen Bemühungen zweifeln und brachte ihn so dazu, sich noch ‚mehr anzustrengen. Die neue Demut hingegen lässt ihn an seinen Zielsetzungen zweifeln und veranlasst ihn damit, seine Bemühungen überhaupt einzustellen.
An jeder Straßenecke trifft man auf Menschen, die so verrückt und blasphemisch sind, zu erklären, sie seien vielleicht im Irrtum. Tag für Tag stößt man auf Leute, die einräumen, sie hätten mit ihrer Ansicht möglicherweise unrecht. Dabei muss ihre Ansicht selbstverständlich die richtige sein, sonst wäre es nicht ihre Ansicht. Wir sind auf dem besten Weg, ein Geschlecht hervorzubringen, das so bescheiden ist, dass es nicht einmal mehr an das Einmaleins glaubt.
Uns drohen Philosophen, die am Gravitationsgesetz zweifeln und den Verdacht hegen, es handele sich dabei um ein bloßes Hirngespinst ihrer selbst. Früher waren die Spötter zu stolz, um sich überzeugen zu lassen; heute hingegen sind sie zu bescheiden, um sich eine Überzeugung zuzutrauen. Den Sanftmütigen und Schwachen gehört die Erde, aber die modernen Skeptiker sind sogar zu schwach, um das, was ihnen gehört, in Anspruch zu nehmen. Genau diese intellektuelle Ohnmacht ist unser zweites Problem.
Aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt III: Der Selbstmord des Denkens