Kurze Erzählung vom Antichrist (12): Die Gegenkirche

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Die Gegenkirche

Schon am folgenden Morgen kamen aus Jerusalem bekannte Pilger und berichteten, was sich in Zion zugetragen hatte: Nach der kaiserlichen Tafel wurden alle Mitglieder des Konzils in den Thronsaal gerufen. (Er befand sich in der Nähe jener Stelle, wo der Thron Salomos gestanden haben soll). Dort richtete der Kaiser das Wort an die Vertreter der katholischen Hierarchie und erklärte ihnen, das Heil der Kirche verlange offensichtlich die sofortige Wahl eines würdigen Nachfolgers auf dem Stuhle Petri. Den Zeitumständen angepaßt, müsse diese Wahl auf kurzem Weg erfolgen, doch ersetze seine, des Imperators, Gegenwart als des Führers und Hauptes der christlichen Welt das, was am Ritual unausgeführt bleiben müsse. Daher schlage er im Namen aller Christen dem Heiligen Kollegium vor, seinen geliebten Freund und Bruder Apollonius zu wählen, damit durch das enge Band, das zwischen ihnen bestehe, auch die Einheit von Kirche und Staat zum Wohle aller sich dauerhaft und unzerstörbar gestalte.

Das Heilige Kollegium begab sich nun zum Konklave in ein abgesondertes Gemach und kehrte nach anderthalb Stunden mit dem neuen Papst Apollonius zurück. Während die Wahl des neuen Papstes vor sich ging, hatte der Imperator die Vertreter des Protestantismus und der Orthodoxie in sanften und beredten Worten dazu bewogen, zum Anbeginn dieser neuen und großen Epoche in der Geschichte der Christenheit ihre alten Zwistigkeiten beizulegen. Er hatte sich mit seinem Wort verbürgt, daß Apollonius allen geschichtlichen Mißbräuchen der päpstlichen Gewalt für immer ein Ende bereiten werde.

Durch diese Rede überzeugt, hatten die Vertreter der Orthodoxie und des Protestantismus eine Urkunde über die Vereinigung ihrer Kirchen aufgesetzt. Als nun Apollonius mit den Kardinalen im Thronsaal erschien, überreichten ihm, umbrandet von Freudenrufen, ein griechischer Bischof und ein protestantischer Pastor den Text dieser Urkunde. „Accipio et approbo et laetificatur cor meum“, sprach Apollonius und unterfertigte feierlich das Dokument. „Ich bin ein ebenso auf richtiger Rechtgläubiger und wahrer Protestant wie ich auch ein gläubiger Katholik bin“, fügte er hinzu und umarmte zum Bruderkuß den Griechen und den Deutschen.
Hierauf schritt er auf den Imperator zu, der ihn seinerseits umarmte und lange in seinen Armen hielt.

Zur gleichen Zeit erschienen im Palaste und im Tempel leuchtende Punkte, die sich nach allen Richtungen bewegten. Sie wurden größer und verwandelten sich in Lichtgestalten seltsamer Wesen; Blumen, wie sie bisher noch kein Auge gesehen hatte, regneten hernieder und erfüllten die Luft mit köstlichem Duft. Aus der Höhe erklang eine zarte, die Herzen ergreifende Musik noch nie gehörter Instrumente und engelgleiche Stimmen unsichtbarer Sänger rühmten die neuen Herrscher des Himmels und der Erde.

Währenddessen erhob sich in der Nordwestecke des Palastes, unter dem Kubeth-el-Ruach, unter der Kuppel der Seelen, ein furchtbares unterirdisches Dröhnen. Dort sollte nach der Überlieferung der Muselmanen der Eingang zur Hölle liegen. Auf Wunsch des Imperators begaben sich alle Anwesenden dorthin. Sie vernahmen zahllose feine, aber durchdringende Stimmen, die weder Kindern noch Höllengeistern gehören konnten. Diese riefen: „Die Zeit ist gekommen, befreit uns, Retter, o Retter!“ Doch Apollonius neigte sich zur Erde und rief dreimal etwas in einer unbekannten Sprache hinunter. Da verklangen die Stimmen und das unterirdische Getöse verstummte.
Gleichzeitig war von allen Seiten eine unzählbare Volksmenge um den Charam-esch-Scherif zusammengeströmt. Als die Nacht hereinbrach, zeigte sich der Imperator mit dem neuen Papst auf der östlichen Freitreppe des Palastes.

Sein Erscheinen rief einen Sturm der Begeisterung hervor. Liebenswürdig begrüßte er alle Anwesenden, während Apollonius aus großen Körben, die ihm Kardinale gleich Ministranten nachtrugen, etwas herausnahm und in die Luft warf. Durch Berührung mit seinen Händen entzündeten sich da prächtige romanische Kerzen, Raketen und Feuerfontänen. Sie erstrahlten bald in phosphoreszierendem Perlenglanze, bald in den leuchtenden Farben des Regenbogens. Dies alles aber verwandelte sich, sobald es zur Erde fiel, in unzählige bunte Flugblätter, die mit vollkommenen Ablässen für alle vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Sünden bedruckt waren. Der Jubel des Volkes war grenzenlos.

Zwar behaupteten einige, sie hätten gesehen, wie diese Ablaßblätter sich in abscheuliche Kröten und Schlangen verwandelten, aber die gewaltige Mehrheit ließ sich von Begeisterung betäuben. Das Volksfest dauerte noch mehrere Tage. In dieser Zeit vollbrachte der neue Wundertäter und Papst so außerordentliche und unwahrscheinliche Zaubereien, daß es vergeblich wäre, sie alle erzählen zu wollen.

(Fortsetzung folgt)

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