»Ich denke, also bin ich.«
Der philosophische Evolutionist dreht den Ausspruch um und verkehrt ihn ins Negative. Er sagt:
»Ich bin nicht; deshalb kann ich denken.«
Aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt III: Der Selbstmord des Denkens
Zitatensammlung
Einige Anhänger des Reverend R.J. Campbell*[1], die einer geradezu überkandidelten Spiritualität huldigen, bekennen sich zur göttlichen Sündlosigkeit, deren sie nicht einmal im Traum ansichtig werden können. Dagegen leugnen sie im Kern die menschliche Sündhaftigkeit, die sie an jeder Straßenecke antreffen können. Die bedeutendsten Heiligen wie auch die entschiedensten Skeptiker nahmen die Gegebenheit des Bösen zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen.
Falls es stimmt (und das tut es), dass ein Mensch mit innigem Vergnügen einer Katze bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren zu ziehen vermag, dann zwingt das den religiösen Philosophen zu einem von zwei Schlüssen: Entweder er muss die Existenz Gottes leugnen, wie es die Atheisten machen, oder er muss bestreiten, dass sich der Mensch gegenwärtig im Einklang mit Gott befindet (also sündigt), wie es die Christen machen. Die neuen modernistischen Theologen dagegen scheinen es für eine äußerst kluge Lösung zu halten, die Katze zu leugnen.
Aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt II: Der Besessene
[1] Reginald John Campbell (1867 bis 1956), kongregationalistischer Geistlicher und berühmter Prediger, der christliche Glaubensvorstellungen mit modernen kritischen Ansichten und Überzeugungen in Einklang zu bringen suchte.
[2] Der Modernismus ist eine um 1900 entstandene Richtung in der katholischen Theologie, die danach strebt, die Religion ans moderne Bewusstsein anzupassen, und die den übernatürlichen Charakter von Glaube, Dogma und Kirche bestreitet.
Das mystische Moment ist es, was den Menschen im Laufe ihrer Geschichte die Gesundheit erhalten hat. Solange es das Mysterium gibt, bleiben die Menschen gesund; zerstört man es, liefert man sie dem Verfall aus.
Der einfache Mensch ist gesund, weil er ein Mystiker ist. Er gestattet sich, im Zwielicht zu leben. Seit jeher steht er mit einem Fuß auf der Erde und mit dem anderen im Feenland. Er hat sich stets die Freiheit genommen, an seinen Göttern zu zweifeln; anders als der heutige Agnostiker aber hat er sich auch stets die Freiheit vorbehalten, an sie zu glauben. Wahrheit war ihm immer wichtiger als logische Konsequenz. Stand er vor zwei Wahrheiten, die sich zu widersprechen schienen, so akzeptierte er beide und nahm den Widerspruch in Kauf. Seine spirituelle Sichtweise ist so stereoskopisch wie seine körperliche: er sieht zwei verschiedene Bilder gleichzeitig, was seiner Scharfsicht aber nur zum Vorteil gereicht.
So hat er immer an so etwas wie Schicksal, aber auch immer an so etwas wie den freien Willen geglaubt. So hat er geglaubt, dass den Kindern das Himmelreich gehört, aber auch, dass sie dennoch den irdischen Mächten zu gehorchen haben. Er hat die Jungen wegen ihrer Jugend bewundert und die Alten, weil sie die Jugend hinter sich hatten. Genau in diesem Ausbalancieren scheinbarer Widersprüche bestand die Spannkraft des gesunden Menschen. Das ganze Mysterium der Mystik besteht darin: dass der Mensch alles kraft dessen verstehen kann, was er nicht versteht. Der kranke Logiker bemüht sich überall um Klarheit und schafft es, alles ins Geheimnis zu hüllen. Der Mystiker findet sich damit, ab, dass es ein einziges Mysterium gibt und schon wird alles andere klar. Der Determinist arbeitet die Theorie der Kausalität bis ins letzte Tüpfelchen aus, nur um festzustellen, dass er nicht einmal mehr zum Dienstmädchen »dürfte ich Sie bitten« sagen kann. Der Christ akzeptiert, dass die Willensfreiheit ein göttliches Geheimnis bleibt; eben deshalb aber ist sein Verhältnis zum Dienstmädchen so klar und durchsichtig wie Kristall. Er pflanzt den Samen des Dogmas ins Herz der Finsternis; aber der Same keimt und entfaltet sich voller Lebenskraft in alle Richtungen.
Wie wir den Kreis zum Sinnbild der Vernunft und des Irreseins erklärt haben, so erscheint uns das Kreuz bestens geeignet, zugleich das Mysterium und die geistige Gesundheit zu symbolisieren. Der Buddhismus ist zentripetal, das Christentum hingegen zentrifugal: es bricht aus. Denn der Kreis ist seiner Natur nach vollkommen und unendlich, sein Umfang allerdings steht ein für allemal fest: er kann weder größer noch kleiner werden. Das Kreuz dagegen mag zwar im Kern einen Konflikt und Widerspruch enthalten; es kann aber seine vier Arme beliebig ausdehnen, ohne jemals die Form zu verändern. Weil in seinem Zentrum ein Paradox steht, kann das Kreuz wachsen, ohne sich zu verändern. Der Kreis kehrt in sich zurück und ist gebunden. Das Kreuz streckt seine Arme in alle vier Himmelsrichtungen; es ist ein Wegweiser für Menschen, die sich frei bewegen wollen.
Wenn man über diese grundlegenden Dinge spricht, sind allein Symbole von – wenn auch begrenztem – Wert. Ein weiteres Sinnbild aus der natürlichen Welt kann den Platz, den das Mysterium im Blick auf die Menschheit einnimmt, hinlänglich verdeutlichen. Das einzige gottgeschaffene Ding, das wir nicht anschauen können, ist eben dasjenige, in dessen Licht wir alles andere sehen. Wie die Mittagssonne erklärt das Mysterium alles Übrige – dank der Strahlkraft seiner eigenen triumphalen Unsichtbarkeit. Die abgehobene Intellektualität ist nichts als bleichsüchtiger Mondschein, denn sie ist Licht ohne Wärme, Abglanz, den eine tote Welt widerstrahlt. Die Griechen hatten Recht, als sie Apollon zum Gott sowohl der Einbildungskraft als auch der Gesundheit erklärten; er war der Schirmherr der Musen und der Heilkunst.
Über unverzichtbare Glaubenssätze und einen ganz bestimmten Glauben werde ich an späterer Stelle reden. Jene Transzendenz aber, die allen Menschen die Kraft zum Leben schenkt, nimmt im Wesentlichen die Stellung der Sonne am Himmel ein. Wir sind uns ihrer als einer Art von blendender Wirrnis bewusst; sie ist etwas ebenso Strahlendes wie Gestaltloses, ist ebenso sehr Gleißen wie blinder Fleck. Die runde Scheibe des Mondes dagegen ist so klar und eindeutig, so wiederkehrend und unfehlbar wie der euklidische Kreis auf einer Schultafel. Luna ist absolut vernünftig und die Mutter der lunatics, wie man im Englischen die Verrückten nennt
Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt II: Der BesesseneViele Menschen sind in die alberne Gewohnheit verfallen, Orthodoxie ( die katholische Religion) für etwas Schwerfälliges, Langweiliges und Gefahrloses zu halten. Aber nie gab es etwas Riskanteres und Packenderes als sie. Sie war der gesunde Verstand – und bei Verstand zu sein ist dramatischer, als verrückt zu sein.
Sie war das Gleichgewicht eines von wild galoppierenden Pferden gezogenen Wagenlenkers, der sich hierhin zu beugen und dorthin zu neigen scheint, aber in jeder Lage die Anmut der Statue und die Genauigkeit der Arithmetik wahrt. In der Frühzeit geriet die Kirche bei jedem Schlachtross völlig außer sich; dennoch ist es einfach unhistorisch zu behaupten, sie sei nur von einer einzigen Idee besessen gewesen, wie der gewöhnliche Fanatismus. Sie schwenkte nach links und rechts aus, gerade als wollte sie gewaltigen Hindernissen ausweichen.
Sie machte einen Bogen um den Riesenleib des Arianismus, weil er das Christentum im Verein mit allen weltlichen Mächten zu sehr verweltlichen wollte; und im nächsten Augenblick einen Schlenker um den Orientalismus, weil er es zu sehr entweltlicht hätte. Nie ging die orthodoxe (katholische) Kirche den einfachen Weg oder beugte sich den Konventionen; nie war sie wohlanständig.
Es wäre leichter gewesen, die irdische Macht der Arianer zu akzeptieren. Es wäre leicht gewesen, im calvinistischen 17. Jahrhundert in die bodenlose Grube der Prädestination zu fallen. Es ist leicht, ein Verrückter, und leicht, ein Häretiker zu sein. Es ist immer leicht, der Epoche ihren Kopf zu lassen; schwer ist es, den eigenen zu bewahren. Es ist immer leicht, ein Modernist zu sein genauso wie ein Snob.
In die eine oder andere dieser offenen Fallgruben des Irrtums und der Übertreibung zu geraten, mit denen alle Moden und alle Sekten den historischen Weg der Christenheit gesäumt haben – das wäre doch einfach gewesen. Fallen ist immer einfach; es gibt unzählige Punkte, wo man fällt, aber nur einen, wo man steht. In die eine oder andere der vielen Moden von der Gnosis bis zur Christian Science zu verfallen – das wäre doch nahe liegend und gefahrlos gewesen.
Aber sie alle umgangen zu haben, das war ein einziges wirbelndes Abenteuer. Und so sehe ich den himmlischen Streitwagen mit Donnern durch die Zeiten stürmen: Während die kraftlosen Ketzereien am Boden hingestreckt liegen, steht die ungestüme Wahrheit schwankend, aber aufrecht.
Aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt VI: Die Paradoxa des Christentums
Die moderne Welt ist nicht böse; in mancher Hinsicht ist sie entschieden zu gut. Sie ist voll Wüsten und vergeudeter Tugenden. Wenn ein religiöses System zertrümmert wird (wie das mit dem Christentum in der Reformation geschah), dann führt das nicht nur zu einer Entfesselung der Laster.
Keine Frage, dass die Laster entfesselt werden; sie streifen umher und stiften Schaden. Aber auch die Tugenden werden entfesselt, und sie streifen noch haltloser umher und richten noch schrecklicheren Schaden an.
Die heutige Welt steckt voll von alten christlichen Tugenden, die durchgedreht sind. Sie sind durchgedreht, weil sie auseinander gerissen wurden und allein umherstreifen.
So kümmert sich etwa die Wissenschaft um die Wahrheit; und ihre Wahrheit ist erbarmungslos. Und so interessiert sich die Philanthropie nur fürs Erbarmen, und ihrem Erbarmen fehlt (so leid es mir tut, das sagen zu müssen) oft die Wahrheit.
Mr. Blatchford[1] zum Beispiel greift das Christentum an, weil er verrückt nach einer einzigen christlichen Tugend ist: der für sich genommen mystischen und fast irrationalen Tugend der Barmherzigkeit. Er hegt die merkwürdige Vorstellung, daß es leichter sei, Sünden zu vergeben, wenn man davon ausgeht, daß es gar keine Sünden gibt, die vergeben werden müssten.
Mr. Blatchford ist nicht nur ein Vertreter des Frühchristentums, er ist auch der einzige frühchristliche Mensch, der es wirklich verdient hätte, von den Löwen gefressen zu werden. Denn auf ihn trifft die heidnische Beschuldigung tatsächlich zu: seine Barmherzigkeit liefe auf schiere Anarchie hinaus. Er ist wirklich ein Feind der Menschheit – weil er so menschenfreundlich ist.
Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt III. DER SELBSTMORD DES DENKENS[1] Robert Peel Glanville Blatchford (1851-1943), englischer Sozialreformer, Begründer der Manchester Fabian Society und Herausgeber des Clarion. Zu Chesterton und Blatchford vgl. das Nachwort von Philip Yancey.
Ich habe mich nie mit dem verbreiteten Gemurre gegen die Monogamie anfreunden können, das die neue Generation anstimmt, weil ich finde, daß keine Einschränkung der sexuellen Freiheit an Unfaßlichkeit und Unerhörtheit die Sexualität selbst übertreffen kann. Wie Endymion die Mondgöttin lieben zu dürfen und sich dann zu beschweren, daß Jupiter sich einen Harem von Mondgöttinnen hält, erscheint mir (der ich mit Märchen wie dem von Endymion aufgewachsen bin) als vulgäre Entgleisung.
Sich auf eine Frau zu beschränken ist ein geringer Preis dafür, daß man überhaupt von einer Frau gewürdigt wird. Sich zu beklagen, daß man nur einmal heiraten kann, ist so, als beklagte man sich, daß man nur einmal geboren wird. Diese Haltung stand in völligem Widerspruch zu der ungeheuren Erregung, um die es dabei ging. Sie bewies nicht etwa besondere Aufgeschlossenheit für die Sexualität, sondern im Gegenteil eine merkwürdige Unempfänglichkeit für sie.
Nur ein Narr bedauert, daß er den Garten Eden nicht durch fünf Tore gleichzeitig betreten kann. Polygamie ist ein Mangel an Fähigkeit, das Potential der Sexualität zu realisieren; sie erinnert an einen Menschen, der eine Birne essen will und geistesabwesend fünf abpflückt.
Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt IV. DIE ETHIK DES ELFENLANDESNehmen wir den ziemlich viel sagenden Fall des Materialismus. Als Welterklärung ist der Materialismus von einer irrsinnigen Schlichtheit. Er ist von haargenau derselben Art wie die Argumentation eines Verrückten; er vermittelt gleichzeitig den Eindruck, alles einzubegreifen und nichts zu erfassen.
Schauen wir uns einen kompetenten und ehrlichen Materialisten wie Mr. McCabe[1] an, so lässt er uns genau mit diesem eigentümlichen Gefühl zurück. Er begreift alles, und was er begreift, scheint das Begreifen gar nicht zu lohnen. Sein Kosmos mag bis zum letzten Nietnagel und Zahnrädchen vollständig sein, und doch ist er kleiner als unsere Welt.
Wie der luzide Aufriss des Verrückten scheint auch sein Entwurf von den fremdartigen Kräften und der großen Unbekümmertheit unseres Planeten nichts zu wissen; er weiß nichts von den wirklichen Dingen auf Erden, den kämpfenden Völkern oder stolzen Müttern, der ersten Liebe oder der Todesangst auf dem offenen Meer. Die Erde ist so ungeheuer groß und der Kosmos so außerordentlich klein. Der Kosmos ist so ziemlich das kleinste Loch, in dem ein Mensch seinen Kopf verstecken kann.
Quelle: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt II: Der Besessene
[1] Joseph M. McCabe (1867-1955), ein Franziskanermönch, der seinem Glauben abschwor und sein Leben der Aufgabe widmete, im Namen der Vernunft die christliche Religion zu bekämpfen. Chestertons Auseinandersetzung mit McCabe findet sich in Ketzer (Die Andere Bibliothek, Nr.165, Frankfurt a. M. 1998, S.207-221) das, wie er einleitend berichtet, durch die Kritik, die es hervorrief, zum Anlaß für das vorliegende Buch wurde.