(Fortsetzung: Der große Abfall – zurück – weiter)
Er schwieg und bohrte seinen Blick in die Augen des Imperators.
Wie in jener schicksalsschweren Nacht erhob sich nun im Imperator ein höllischer Sturm, der ihm jede Herrschaft über seine Seelenkräfte nahm. Mit übermenschlicher Anstrengung suchte er, die äußere Selbstbeherrschung nicht zu verlieren und sich nicht vorzeitig zu verraten. Es kostete ihn ungeheure Mühe, sich zurückzuhalten und nicht mit einem wilden Aufschrei sich auf den Redner zu stürzen, der eben gesprochen hatte, um ihn mit seinen Zähnen zu zerfleischen. Da plötzlich hörte er eine ihm wohlbekannte überirdische Stimme: „Schweige, und fürchte nicht!“ Er schwieg, nur sein leichenstarres, verfinstertes Gesicht verzerrte sich in wildem Schmerz und seine Augen sprühten Funken.
Während der Worte des Vaters Johannes hatte sich der große Magier, der dasaß, den Kardinalspurpur ganz verdeckt unter dem weiten, dreifarbigen Mantel, irgend etwas unter dessen Falten zu schaffen gemacht. Seine Augen starrten in kaltem Glanze geradeaus und seine Lippen bewegten sich. Durch die geöffneten Fenster des Tempels sah man eine große schwarze „Wolke heraufziehen, die urplötzlich alles in Dunkel hüllte. Der greise Vater Johannes, der die ganze Zeit über unverwandt erstaunt und erschrocken den schweigenden Imperator angeblickt hatte, wich auf einmal entsetzt zurück, wandte sich den Seinen zu und rief mit erstickter Stimme: „Kindlein — es ist der Antichrist!“
Im selben Augenblick erdröhnte ein betäubender Donnerschlag, ein furchtbarer Kugelblitz zuckte auf, der sprühend den Greis umflammte. Alles war wie gelähmt. Als die Christen wieder aus der Betäubung zu sich kamen, lag Vater Johannes tot da.
Bleich, aber ruhig, wandte sich der Imperator von neuem an das Konzil: „Ihr habt selbst das Gottesgericht gesehen. Ich wollte niemandes Tod, doch mein himmlischer Vater rächt seinen geliebten Sohn. Die Frage ist entschieden. Wer wagt es noch, mit dem Höchsten zu rechten? — Sekretäre, schreibt: Nachdem Feuer vom Himmel einen wahnsinnigen Feind der göttlichen Majestät zerschmettert hat, beschließt nunmehr einstimmig das ökumenische Konzil der Christen aller Bekenntnisse, den gegenwärtigen römischen Imperator, den Beherrscher der Welt, als seinen obersten Führer und Herrn anzuerkennen.“
Da widersetzte sich plötzlich eine klare Stimme, die durch den mächtigen Tempel hallte: „Contradicitur.“ Papst Petrus II. hatte sich erhoben und in heiligem Zorn bebend hob er seinen Bischofsstab gegen den Imperator:
„Unser einziger Herr ist Jesus Christus, der Sohn des lebendigen Gottes. Wer Du aber bist, hast Du soeben gehört. Hebe Dich hinweg, Du Brudermörder Kain! Weiche von hinnen. Du Werkzeug des Satans! Durch die mir von Christus verliehene Gewalt und als Knecht der Knechte Gottes schließe ich Dich räudigen Hund auf ewig aus Gottes Kirche aus und übergebe Dich Deinem Vater, dem Satan. – Anathema, Anathema, Anathema!“
Noch während der feierlichen Bannworte des Papstes hatte sich der große Magier unruhig unter seinem weiten Mantel bewegt. Lauter noch als das letzte „Anathema“ krachte ein Donnerschlag und der letzte Papst stürzte leblos zu Boden.
„So werden durch die Hand meines Vaters alle meine Feinde gefällt werden“, rief der Imperator. „Pereant! Pereant!“ bekräftigten die bebenden Kirchenfürsten.
Der Imperator wandte sich um und verließ langsam, auf die Schulter des großen Magiers gestützt, durch die Pforte hinter der Tribüne den Tempel. Ihm folgten seine Anhänger. Im Tempel blieben nur die beiden Toten zurück, um sie eine dichtgedrängte Schar von Menschen, die vor Schrecken halbtot waren. Der einzige unter ihnen, der seine Fassung nicht verloren hatte, war Professor Pauli. Das allgemeine Entsetzen schien vielmehr alle Kräfte seines Geistes geweckt zu haben. Auch äußerlich ging mit ihm eine Änderung vor. Sein Antlitz nahm einen erhabenen und verklärten Ausdruck an. Mit sicheren Schritten betrat er die Tribüne, setzte sich auf einen der leeren Plätze der Staatssekretäre, nahm einen Bogen Papier und begann darauf zu schreiben.
Als er damit geendet hatte, erhob er sich und verlas mit lauter Stimme: „Zum Ruhme unseres einzigen Erlösers Jesus Christus! Nachdem unser allerseligster Bruder Johannes, das Haupt der östlichen Christenheit, den großen Betrüger und Gottesfeind entlarvt und als den in der Heiligen Schrift vorausgesagten Antichrist erwiesen hat, ferner, nachdem unser allerseligster Vater Petrus, das Haupt der westlichen Christenheit, ihn, den Antichrist, in aller Form und gemäß dem Gesetz aus der Kirche Gottes ausgestoßen hat, beschließt das in Jerusalem versammelte ökumenische Konzil feierlich und angesichts der Leichname dieser beiden Zeugen Jesu Christi, hinfort jeder Gemeinschaft mit dem Verfluchten und seiner nichtswürdigen Anhängerschaft abzusagen, in die „Wüste zu gehen und dort die bevorstehende Wiederkunft unseres wahren Herrn und Heilands, Jesus Christus, zu erwarten.“
Da ergriff heilige Begeisterung die Versammelten, die laut in den Ruf ausbrachen: „Adveniat, adveniat cito! Komm, Herr Jesus, komm!“ Professor Pauli setzte noch etwas schriftlich hinzu und verlas hierauf diesen Nachsatz: „Nachdem wir einstimmig den ersten und letzten Beschluß des ökumenischen Konzils gefaßt und angenommen haben, unterschreiben wir …“ Hier forderte er mit einer Handbewegung die Anwesenden auf, die Urkunde zu unterfertigen und alle beeilten sich, dies zu tun. An letzter Stelle unterschrieb er selbst mit großen gotischen Schriftzeichen: Duorum defunctorum testium locum tenens — Ernst Pauli.
Dann, auf die beiden Toten weisend, sagte er: „Jetzt aber laßt uns aufbrechen mit unserer Bundeslade des letzten Testaments.“ Die heiligen Leichname wurden auf Bahren gelegt und unter dem Gesang lateinischer, deutscher und kirchen-slawischer Hymnen schritten die Christen feierlich dem Ausgang des Tempels zu.
Dort stieß der Zug auf einen Beauftragten des Imperators, einen Staatssekretär, der von einer Gardeabteilung, mit einem Offizier an der Spitze begleitet war. Soldaten besetzten den Ausgang, während der Offizier von erhöhtem Orte aus folgende Anordnung verlas:
„Befehl Seiner göttlichen Majestät! Um das Christenvolk aufzuklären und es vor böswilligen Unruhestiftern zu bewahren, haben wir beschlossen, die Leichen der beiden Aufrührer, die durch Feuer vom Himmel herab getötet wurden, in der ‚Straße der Christen‘ (Charet-en-Nasara) beim Eingang zur Hauptkirche dieser Religion, die Grabes- oder auch Auferstehungskirche genannt wird, öffentlich auszustellen, so daß jedermann sich von ihrem Ende mit eigenen Augen überzeugen kann. Ihre halsstarrigen Anhänger aber, die böswillig alle unsere Wohltaten zurückweisen und in Verblendung die klaren Offenbarungen der Gottheit nicht sehen wollen, werden durch unsere Barmherzigkeit und dank unserer Fürbitte bei unserem himmlischen Vater vor dem wohlverdienten Tod durch das Feuer vom Himmel bewahrt. Sie behalten voll und ganz ihre Freiheit, nur wird ihnen im Interesse des Allgemeinwohles verboten, in Städten und anderen Siedlungen zu wohnen, damit sie nicht unschuldige und einfache Leute mit ihren hinterhältigen Lügen verwirren und verführen können.“
Als der Offizier geendet hatte, traten auf sein Zeichen acht Soldaten an die Bahren der Toten. „Ja, es möge sich die Schrift erfüllen“, sagte Professor Pauli, und die Christen, welche die Bahren trugen, überließen diese schweigend den Soldaten, die sich durch das nordwestliche Tor entfernten.
Die Christen durchschritten das Tor im Nordosten und verließen rasch die Stadt. Am Ölberg vorbei suchten sie auf der großen Straße, die schon vorher von Gendarmerie und zwei Regimentern Kavallerie von Ansammlungen Neugieriger gesäubert war, Jericho zu erreichen. Auf den einsamen Hügeln von Jericho beschlossen die Christen, einige Tage zu verweilen.
(Fortsetzung folgt)