Der große Abfall
Nach der glücklichen Lösung der politischen und sozialen Probleme verblieb noch die religiöse Frage. Der Imperator griff sie selbst auf — vor allem im Hinblick auf das Christentum. Dessen Situation war damals etwa folgende: Trotzdem die Zahl seiner Bekenner sich beträchtlich vermindert hatte und auf der ganzen Erde nur mehr fünfundvierzig Millionen Christen umfaßte, war die Kirche sittlich gefestigt und innerlich gestärkt aus dieser Krise hervorgegangen. Sie hatte an Innerlichkeit gewonnen, was sie an Zahl verloren hatte.
Christen, die nur noch dem Namen nach als solche galten, gab es fast nicht mehr. Da auch die anderen christlichen Bekenntnisse in gleichem Maße an Gläubigen eingebüßt hatten, standen sie untereinander fast in dem früheren Verhältnis. In ihrer wechselseitigen Einschätzung war zwar die alte Feindschaft noch nicht völlig erloschen, aber doch beträchtlich gemildert. Jedenfalls hatten die Gegensätze ihre einstige Schärfe verloren.
Lange schon war der Papst aus Rom vertrieben worden. Nach langen Irrfahrten fand er schließlich in Petersburg ein Asyl, doch nur unter der Bedingung, sich dort und innerhalb Rußlands jeder Glaubenspropaganda zu enthalten. Im russischen Exil wurde die äußere Erscheinung des Papsttums bedeutend vereinfacht. Im wesentlichen blieb zwar der Bestand an Kollegien und Offizien erhalten, doch vergeistigte sich ihre Aufgabe, zugleich mit einer Einschränkung der glanzvollen Repräsentation auf das Mindestmaß. Viele sonderbare und bedenkliche Gebräuche wurden zwar nicht in aller Form abgeschafft, verschwanden aber von selbst.
In allen übrigen Ländern, besonders in Nordamerika, verfügte die katholische Hierarchie noch über zahlreiche Repräsentanten mit einem festen Willen, unermüdlicher Tatkraft und in unabhängiger Stellung. Entschlossener noch als früher verteidigten sie die Einheit der katholischen Kirche und ihren alle Völker der Erde umfassenden ökumenischen Anspruch.
Der Protestantismus war nach wie vor in Deutschland am stärksten vertreten, besonders, nachdem ein bedeutender Teil der anglikanischen Kirche zum Katholizismus zurückgekehrt war. Er hatte sich von allen radikalen und zersetzenden Strömungen befreit und deren Anhänger waren offen in religiöse Gleichgültigkeit, ja, in den Unglauben verfallen. So verblieben im evangelischen Bekenntnis nur aufrichtige Gläubige, die zu ihren Führern Männer von umfassender Bildung und tiefer Frömmigkeit hatten. Diese Männer wünschten, durch sich selbst ein lebendiges Beispiel des Urchristentums zu geben.
Die russische Orthodoxie hatte durch die politischen Ereignisse ihren Charakter als staatliche Einrichtung eingebüßt und dadurch zwar Millionen, die sich nur dem Namen nach zu ihr bekannten, verloren, dafür aber die Freude erlebt, daß der beste Teil der Altgläubigen und selbst viele Sektierer von positiv-religiöser Richtung sich wieder mit ihr vereinigten. In ihrer geistigen Kraft erneuert, nahm indessen die Orthodoxie nicht an Zahl der Bekenner zu, doch erwies sich die Kraft ihres Geistes im Kampf gegen die radikalen Sekten, deren Zahl im einfachen Volk, wie unter den Gebildeten ständig zunahm, und die dabei dämonischer und satanischer Züge nicht entbehrten.
In den ersten zwei Jahren der neuen Herrschaft waren alle Christen verängstigt und erschöpft durch die unaufhörlichen Kriege und Revolutionen. So standen sie dem neuen Herrscher und seinen Friedensreformen teils mit wohlwollender Erwartung, teils mit erklärter Sympathie und sogar lebhafter Begeisterung gegenüber. Im dritten Jahre jedoch, als der große Magier auftrat, erwachte in vielen Orthodoxen, Katholiken und Protestanten Furcht und Abneigung.
Nun begann man, jene Stellen im Evangelium und bei den Aposteln, die den Fürsten dieser Welt und den Antichrist betreffen, aufmerksamer zu lesen und eifriger auszulegen. An gewissen Anzeichen erkannte der Imperator, daß sich gegen ihn ein Unwetter zusammenzog. Er beschloß, ihm zuvorzukommen.
Zu Beginn des vierten Regierungsjahres erließ der Imperator ein Manifest an seine treuen Christen aus allen Bekenntnissen. Er forderte sie auf, bevollmächtigte Vertreter zu einem ökumenischen Konzil zu erwählen oder zu bestimmen, das unter seinem Vorsitz zusammentreten sollte.
In dieser Zeit wurde die kaiserliche Residenz von Rom nach Jerusalem verlegt. Palästina war damals eine autonome Provinz, die in der Hauptsache von Juden bewohnt und verwaltet wurde. Jerusalem, bisher eine Freistadt, wurde nunmehr zur kaiserlichen Residenz erhoben. Die christlichen Heiligtümer blieben unberührt. Auf der ganzen weiten Plattform Charam-esch-Scheriff, von Birket Israin und der heutigen Kaserne bis zu den Ställen Salomos wurde ein Kolossalbau errichtet, der außer zwei kleinen Moscheen auch den weitläufigen „Tempel zur Vereinigung aller Kulte“ einschloß. Ferner umfaßte der riesige Palast auch zwei prächtige kaiserliche Schlösser mit Bibliotheken, Museen und besonderen Räumen für magische Versuche und Übungen. In diesem Gebäude, halb Tempel, halb Palast, sollte am vierzehnten September das ökumenische Konzil eröffnet werden.
Da der Protestantismus Priester im eigentlichen Sinne des Wortes nicht kennt, beschlossen die katholischen und orthodoxen Hierarchen, einem Wunsche des Imperators zu entsprechen und eine gewisse Anzahl von Laien, die sich durch Frömmigkeit und Kirchentreue auszeichneten, an dem Konzil teilnehmen zu lassen. Damit waren alle Glieder der Christenheit in gleicher Weise vertreten. Waren nun aber einmal die Laien zugelassen, so konnte man auch die niedrige Geistlichkeit, Ordensleute und Weltpriester, nicht ausschließen. Dadurch überschritt die Gesamtzahl der Mitglieder des Konzils dreitausend Personen; dazu kam noch etwa eine halbe Million christlicher Pilger, die Jerusalem und ganz Palästina überfluteten.
Drei Mitglieder des Konzils ragten besonders hervor. Vor allem Papst Petrus II., das rechtmäßige Haupt der katholischen Abordnung. Sein Vorgänger war auf dem Wege zum Konzil gestorben und ein in Damaskus abgehaltenes Konklave hatte einstimmig den Kardinal Simone Barionini zum Papst gewählt. Als solcher hatte er den Namen Petrus angenommen. Aus einer armen Familie der Provinz Neapel gebürtig, war er als Prediger des Karmeliterordens bekannt geworden. Als solcher hatte er sich große Verdienste im Kampf mit einer satanischen Sekte erworben, die sich in Petersburg und dessen Umgebung ausgebreitet und nicht nur Orthodoxe, sondern auch Katholiken verführt hatte. Zuerst Erzbischof von Mogilew, wurde er später zum Kardinal ernannt und war vor allen anderen für die Tiara ausersehen.
(Fortsetzung folgt)