Kurze Erzählung vom Antichrist (09)

(Fortsetzung: Der große Abfall – zurückweiter)

Etwa fünfzig Jahre alt, war der neue Papst von mittlerem Wuchs und kräftigem Körperbau. Er hatte ein rötliches Gesicht, aus dem unter buschigen Augenbrauen eine gebogene Nase vorsprang. Sein impulsives Wesen ließ ihn mit Feuer sprechen, wobei er seine Worte mit weit ausholenden Gesten unterstrich. Seine Rede riß die Zuhörer mehr hin, als daß er sie überzeugte.

Den Weltherrscher betrachtete der neue Papst mißtrauisch, ja ablehnend, seit sein verstorbener Vorgänger auf der Reise zum Konzil dem Drängen des Imperators nachgegeben und den kaiserlichen Kanzler und Magier zum Kardinal ernannt hatte, jenen exotischen Bischof Apollonius, den Petrus für einen zweifelhaften Katholiken, aber für einen unzweifelhaften Gaukler hielt.

Der tatsächliche, wenn auch nicht offizielle Sprecher der Orthodoxie war der Mönch Johannes; er wurde vom einfachen Volke Rußlands allgemein verehrt. Obgleich er sich offiziell als Bischof zur Ruhe gesetzt hatte, lebte er nicht einsam im Kloster, sondern wanderte im Lande umher. Zahlreiche Legenden waren über ihn im Umlauf. Einige behaupteten, in ihm sei Fjodor Kusmitsch, nämlich der Zar Alexander I., der vor etwa dreihundert Jahren geboren war, auferstanden.

Andere gingen noch weiter und erklärten, er sei der Apostel und Evangelist Johannes, der in Wahrheit niemals gestorben sei und in der letzten Zeit sich offen zeige. Indessen sprach Vater Johannes selbst niemals über seine Herkunft und seine Jugend.

Jetzt war Johannes ein hochbetagter, aber noch rüstiger Greis, und das Weiß seiner Locken und seines wallenden Bartes hatte bereits einen gelblichen, ins Grünliche übergehenden Schimmer. Er war hoch gewachsen und hager, hatte aber volle, rosig angehauchte Wangen und einen lebhaften, glänzenden Blick. Auf seinem Antlitz zeigte sich rührende Güte, die auch seine Reden charakterisierte. Stets trug er eine weiße Soutane und darüber einen ebensolchen Mantel.

Die protestantische Abordnung auf dem Konzil wurde von Professor Ernst Pauli angeführt, einem gelehrten deutschen Theologen. Das war ein kleiner vertrockneter Greis mit gewaltiger Stirn, spitzer Nase und einem glatt rasierten Kinn. Aus seinen Augen sprach ein heftiges, doch gutmütiges Wesen. Jeden Augenblick rieb er sich die Hände, schüttelte den Kopf und runzelte schrecklich die Augenbrauen, ließ dann die Lippen hängen und murmelte schließlich mit funkelnden Augen und dumpfer Stimme: „So! Nun! Ja! So also!“ Er war stets feierlich gekleidet: eine weiße Krawatte zu einem langen Pastorenrock, der mit Orden geschmückt war. Die Eröffnung des Konzils war eindrucksvoll.

Zwei Drittel des gewaltigen „Tempels zur Vereinigung aller Kulte“ wurden von Bänken und anderen Sitzen für die Teilnehmer des Konzils, ein Drittel von einer hohen Tribüne eingenommen. Dort standen hinter dem Thron des Imperators und dem ein wenig niedrigeren Thronsessel des großen Magiers, Kardinals und kaiserlichen Kanzlers lange Reihen von Sitzen für die Minister, Hofleute und Staatssekretäre. Zu beiden Seiten befanden sich noch längere Reihen von Sitzen, deren Bestimmung aber niemand kannte. Auf den Galerien hatten Musikorchester Platz genommen. Zwei Garderegimenter und eine Batterie waren auf dem nahen Platz zur Abgabe der Ehrensalven angetreten. Die Mitglieder des Konzils hatten ihre Gottesdienste in den verschiedenen Kirchen abgehalten, so daß die Eröffnung des Konzils einen vollkommen weltlichen Charakter trug.

Als der Imperator, an seiner Seite der große Magier und hinter ihm ein zahlreiches Gefolge, die Halle betrat, spielten die Orchester den „Marsch der Vereinigten Menschheit“, der zugleich als kaiserliche und internationale Hymne diente. Die Konzilsteilnehmer erhoben sich von ihren Sitzen und riefen, ihre Hüte schwenkend, dreimal laut: „Vivat! Hurra! Hoch!“ Der Imperator stellte sich neben seinen Thron und nach einer majestätischen Gebärde des Wohlwollens sprach er mit volltönender und angenehmer Stimme zur Versammlung:

„Christen aller Bekenntnisse! Meine geliebten Untertanen und Brüder!

Seit Beginn meiner Regierung, die der Höchste mit so wunderbaren und ruhmvollen Werken gesegnet hat, habe ich noch keinen Anlaß gefunden, mit Euch unzufrieden zu sein. Immer habt Ihr Eure Pflicht erfüllt, so wie es Euch Glaube und Gewissen geboten. Aber das ist mir nicht genug. Die innige Liebe zu Euch, meine teuren Brüder, dürstet darnach, erwidert zu werden. Ich wünsche von Herzen, daß Ihr mich nicht aus Pflichtgefühl, vielmehr aus aufrichtiger Liebe anerkennt als Euren Führer in allem, was zum Heile der Menschheit erforderlich ist. Daher möchte ich außer den Wohltaten, die ich allen angedeihen lasse, Euch noch eine besondere Gnade erweisen.
Christen, womit könnte ich Euch beglücken? Was soll ich Euch gewähren, nicht als meinen Untertanen, sondern als meinen Brüdern und Glaubensgenossen? Christen! Sagt mir, was Ihr am Christentum am meisten liebt, damit ich meine Bemühungen darauf richte!“

Der Imperator hielt inne und wartete, während sich im Tempel ein dumpfes Murmeln erhob. Die Mitglieder des Konzils sprachen leise miteinander. Papst Petrus gestikulierte heftig und erklärte irgend etwas seiner Umgebung. Professor Pauli schüttelte das Haupt und verzog zornig die Lippen, Vater Johannes wandte sich einem orthodoxen Bischof und einem Kapuziner zu und sprach leise auf sie ein.

Der Imperator hatte ein wenig gewartet. Nun wandte er sich von neuem an das Konzil, doch klang nun in dem freundlichen Ton eine leichte, kaum erkennbare Ironie mit.

„Liebe Christen“, sprach er, „ich verstehe wohl, daß es Euch nicht leicht fällt, mir ohne weiteres zu antworten. Ich will Euch dabei helfen. Zu Eurem Unglück seid Ihr seit undenklichen Zeiten in verschiedene Bekenntnisse und Parteien gespalten. Daher gibt es vielleicht unter Euch nichts, was Ihr gemeinsam am meisten schätzt. Wenn Ihr aber untereinander selbst nicht einig werden könnt, dann hoffe ich, alle Eure Parteien zu einigen dadurch, daß ich allen die gleiche Liebe erweise und die gleiche Bereitschaft, die wahren Wünsche eines jeden zu befriedigen.
Liebe Christen! Ich weiß, daß vielen von Euch, und darunter nicht den Geringsten, die geistliche Autorität seiner gesetzmäßigen Repräsentanten im Christentum das Teuerste ist — einer Autorität, die es selbstverständlich nicht zu deren persönlichen Vorteil, sondern zum Wohle aller gewährt, da ja auf ihr die geregelte Ordnung des Geistes und die moralische Disziplin beruht, die beide niemand entbehren kann.

Liebe katholische Brüder! Oh, wie verstehe ich Eure Ansicht und wie gerne möchte ich meine Herrschaft auf die Autorität Eures geistigen Oberhauptes stützen! Damit Ihr aber nicht glaubt, dies seien Schmeicheleien oder leere Worte, erklären wir in aller Feierlichkeit: Kraft unseres unumschränkten Willens wird von nun an der oberste Bischof aller Katholiken, der römische Papst, wieder auf seinen Thron in Rom eingesetzt mit allen früheren Rechten und allen Vorrechten des päpstlichen Stuhles, Rechten, die von unseren Vorgängern bis auf Konstantin den Großen zugesichert wurden. Von Euch aber, liebe katholische Brüder, verlange ich dafür nur die Anerkennung meiner Person als Eures einzigen Verteidigers und Beschützers. Wer sich dazu nach Gefühl und Gewissen bekennen kann, möge hierher, zu mir treten.“

(Fortsetzung folgt)

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Kurze Erzählung vom Antichrist (08): Der große Abfall

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Der große Abfall

Nach der glücklichen Lösung der politischen und sozialen Probleme verblieb noch die religiöse Frage. Der Imperator griff sie selbst auf — vor allem im Hinblick auf das Christentum. Dessen Situation war damals etwa folgende: Trotzdem die Zahl seiner Bekenner sich beträchtlich vermindert hatte und auf der ganzen Erde nur mehr fünfundvierzig Millionen Christen umfaßte, war die Kirche sittlich gefestigt und innerlich gestärkt aus dieser Krise hervorgegangen. Sie hatte an Innerlichkeit gewonnen, was sie an Zahl verloren hatte.

Christen, die nur noch dem Namen nach als solche galten, gab es fast nicht mehr. Da auch die anderen christlichen Bekenntnisse in gleichem Maße an Gläubigen eingebüßt hatten, standen sie untereinander fast in dem früheren Verhältnis. In ihrer wechselseitigen Einschätzung war zwar die alte Feindschaft noch nicht völlig erloschen, aber doch beträchtlich gemildert. Jedenfalls hatten die Gegensätze ihre einstige Schärfe verloren.

Lange schon war der Papst aus Rom vertrieben worden. Nach langen Irrfahrten fand er schließlich in Petersburg ein Asyl, doch nur unter der Bedingung, sich dort und innerhalb Rußlands jeder Glaubenspropaganda zu enthalten. Im russischen Exil wurde die äußere Erscheinung des Papsttums bedeutend vereinfacht. Im wesentlichen blieb zwar der Bestand an Kollegien und Offizien erhalten, doch vergeistigte sich ihre Aufgabe, zugleich mit einer Einschränkung der glanzvollen Repräsentation auf das Mindestmaß. Viele sonderbare und bedenkliche Gebräuche wurden zwar nicht in aller Form abgeschafft, verschwanden aber von selbst.

In allen übrigen Ländern, besonders in Nordamerika, verfügte die katholische Hierarchie noch über zahlreiche Repräsentanten mit einem festen Willen, unermüdlicher Tatkraft und in unabhängiger Stellung. Entschlossener noch als früher verteidigten sie die Einheit der katholischen Kirche und ihren alle Völker der Erde umfassenden ökumenischen Anspruch.

Der Protestantismus war nach wie vor in Deutschland am stärksten vertreten, besonders, nachdem ein bedeutender Teil der anglikanischen Kirche zum Katholizismus zurückgekehrt war. Er hatte sich von allen radikalen und zersetzenden Strömungen befreit und deren Anhänger waren offen in religiöse Gleichgültigkeit, ja, in den Unglauben verfallen. So verblieben im evangelischen Bekenntnis nur aufrichtige Gläubige, die zu ihren Führern Männer von umfassender Bildung und tiefer Frömmigkeit hatten. Diese Männer wünschten, durch sich selbst ein lebendiges Beispiel des Urchristentums zu geben.

Die russische Orthodoxie hatte durch die politischen Ereignisse ihren Charakter als staatliche Einrichtung eingebüßt und dadurch zwar Millionen, die sich nur dem Namen nach zu ihr bekannten, verloren, dafür aber die Freude erlebt, daß der beste Teil der Altgläubigen und selbst viele Sektierer von positiv-religiöser Richtung sich wieder mit ihr vereinigten. In ihrer geistigen Kraft erneuert, nahm indessen die Orthodoxie nicht an Zahl der Bekenner zu, doch erwies sich die Kraft ihres Geistes im Kampf gegen die radikalen Sekten, deren Zahl im einfachen Volk, wie unter den Gebildeten ständig zunahm, und die dabei dämonischer und satanischer Züge nicht entbehrten.

In den ersten zwei Jahren der neuen Herrschaft waren alle Christen verängstigt und erschöpft durch die unaufhörlichen Kriege und Revolutionen. So standen sie dem neuen Herrscher und seinen Friedensreformen teils mit wohlwollender Erwartung, teils mit erklärter Sympathie und sogar lebhafter Begeisterung gegenüber. Im dritten Jahre jedoch, als der große Magier auftrat, erwachte in vielen Orthodoxen, Katholiken und Protestanten Furcht und Abneigung.

Nun begann man, jene Stellen im Evangelium und bei den Aposteln, die den Fürsten dieser Welt und den Antichrist betreffen, aufmerksamer zu lesen und eifriger auszulegen. An gewissen Anzeichen erkannte der Imperator, daß sich gegen ihn ein Unwetter zusammenzog. Er beschloß, ihm zuvorzukommen.

Zu Beginn des vierten Regierungsjahres erließ der Imperator ein Manifest an seine treuen Christen aus allen Bekenntnissen. Er forderte sie auf, bevollmächtigte Vertreter zu einem ökumenischen Konzil zu erwählen oder zu bestimmen, das unter seinem Vorsitz zusammentreten sollte.

In dieser Zeit wurde die kaiserliche Residenz von Rom nach Jerusalem verlegt. Palästina war damals eine autonome Provinz, die in der Hauptsache von Juden bewohnt und verwaltet wurde. Jerusalem, bisher eine Freistadt, wurde nunmehr zur kaiserlichen Residenz erhoben. Die christlichen Heiligtümer blieben unberührt. Auf der ganzen weiten Plattform Charam-esch-Scheriff, von Birket Israin und der heutigen Kaserne bis zu den Ställen Salomos wurde ein Kolossalbau errichtet, der außer zwei kleinen Moscheen auch den weitläufigen „Tempel zur Vereinigung aller Kulte“ einschloß. Ferner umfaßte der riesige Palast auch zwei prächtige kaiserliche Schlösser mit Bibliotheken, Museen und besonderen Räumen für magische Versuche und Übungen. In diesem Gebäude, halb Tempel, halb Palast, sollte am vierzehnten September das ökumenische Konzil eröffnet werden.

Da der Protestantismus Priester im eigentlichen Sinne des Wortes nicht kennt, beschlossen die katholischen und orthodoxen Hierarchen, einem Wunsche des Imperators zu entsprechen und eine gewisse Anzahl von Laien, die sich durch Frömmigkeit und Kirchentreue auszeichneten, an dem Konzil teilnehmen zu lassen. Damit waren alle Glieder der Christenheit in gleicher Weise vertreten. Waren nun aber einmal die Laien zugelassen, so konnte man auch die niedrige Geistlichkeit, Ordensleute und Weltpriester, nicht ausschließen. Dadurch überschritt die Gesamtzahl der Mitglieder des Konzils dreitausend Personen; dazu kam noch etwa eine halbe Million christlicher Pilger, die Jerusalem und ganz Palästina überfluteten.

Drei Mitglieder des Konzils ragten besonders hervor. Vor allem Papst Petrus II., das rechtmäßige Haupt der katholischen Abordnung. Sein Vorgänger war auf dem Wege zum Konzil gestorben und ein in Damaskus abgehaltenes Konklave hatte einstimmig den Kardinal Simone Barionini zum Papst gewählt. Als solcher hatte er den Namen Petrus angenommen. Aus einer armen Familie der Provinz Neapel gebürtig, war er als Prediger des Karmeliterordens bekannt geworden. Als solcher hatte er sich große Verdienste im Kampf mit einer satanischen Sekte erworben, die sich in Petersburg und dessen Umgebung ausgebreitet und nicht nur Orthodoxe, sondern auch Katholiken verführt hatte. Zuerst Erzbischof von Mogilew, wurde er später zum Kardinal ernannt und war vor allen anderen für die Tiara ausersehen.

(Fortsetzung folgt)

Die Serie

Kurze Erzählung vom Antichrist (07)

(Fortsetzung: Das Friedensreich des Imperators – zurückweiter)

Da und dort gab es in Asien noch unabhängige Stämme und Reiche. Mit einem kleinen, aber auserlesenen Heer aus Russen, Deutschen, Polen, Ungarn und Türken unternahm der Imperator einen militärischen Spaziergang von Ostasien bis Marokko und unterwarf fast ohne Blutvergießen alle noch ungehorsamen Völker. In den Ländern beider Hemisphären setzte er seine Statthalter ein, die er unter den ihm ergebenen und europäisch gebildeten einheimischen Großen erwählte. In allen heidnischen Ländern rief ihn die Bevölkerung unter dem Eindruck seiner bezaubernden Persönlichkeit zur obersten Gottheit aus.

Ein Jahr hatte genügt, um die Weltmonarchie im wahrsten Sinne des Wortes zu begründen. Alle Kriegsursachen wurden mit der Wurzel beseitigt. Der Weltbund der Pazifisten trat zum letzten Male zusammen, feierte auf seinem letzten Kongreß begeistert den Kaiser des allgemeinen Friedens und löste sich dann auf, da sein Ziel erreicht war.
Zu Beginn des zweiten Jahres seiner Regierung erließ der Imperator ein neues Manifest: „Völker der Erde! Ich habe Euch den Frieden gegeben, den ich Euch versprochen habe. Doch nur bei Wohlstand ist der Friede begehrenswert. Wenn jemand im Frieden von Not und Elend bedroht ist, dann erquickt auch der Friede nicht. So kommt denn alle zu mir, die Ihr hungert und friert, ich will Euch speisen und ich will Euch bekleiden.“

Im Anschluss daran verkündete er jene einfache und umfassende Sozialreform, mit der er schon in seinem Buche alle bedeutenden und vernünftigen Köpfe gewonnen hatte. Dank der einheitlichen Verwaltung und Kontrolle der Weltfinanzen sowie eines gewaltigen Grundbesitzes konnte der Imperator diese Reform durchführen. Er befriedigte die Armen, ohne die Reichen allzu fühlbar zu treffen. Jeder erhielt seinen Anteil entsprechend den Fähigkeiten, die er durch Arbeit und Verdienst bewies.

Der neue Weltherrscher war vor allem ein mitleidiger Menschenfreund, aber er liebte und schützte auch die Tiere. Er selbst war Vegetarier, verbot die Vivisektion und stellte die Schlachthäuser unter strenge Kontrolle. Den Tierschutzvereinen wurde seine besondere Förderung zuteil. Weit wichtiger als diese Anordnungen war der Erlaß eines Grundgesetzes, das entsprechend der allgemeinen Gleichheit der Menschen auch die Gleichheit in der Ernährung festlegte.

Diese Reform wurde im zweiten Jahre seiner Regierung durchgeführt. Damit war die soziale und die wirtschaftliche Frage endgültig gelöst. Wenn aber die Sättigung für die Hungernden das Wichtigste ist, so haben die Gesättigten andere Bedürfnisse. Selbst satte Tiere wollen gewöhnlich nicht nur schlafen, sondern auch spielen. Wieviel mehr die Menschen! Immer noch haben sie nach dem Brot auch Spiele verlangt. Der kaiserliche Übermensch wußte, was seine Völker begehrten.

Während eines Aufenthaltes in Rom suchte ihn ein Wundertäter aus dem Fernen Osten auf, den wie eine Wolke merkwürdige Erzählungen und seltsame Legenden begleiteten. Der Wundertäter sollte nach Gerüchten, die unter den Neobuddhisten verbreitet waren, göttlichen Ursprungs sein: der Sohn des Sonnengottes Surja und einer Flußnymphe.

Der Wundertäter, der sich Apollonius nannte, war unbestreitbar ein genialer Mensch. Seiner Abstammung nach halb Asiate, halb Europäer, war er als katholischer Bischof in der Heidenmission tätig. In einzigartiger Weise vereinigte er die Kenntnis der jüngsten theoretischen Ergebnisse der Wissenschaft des Westens samt ihrer technischen Anwendung mit der Beherrschung von Theorie und Praxis alles dessen, was die überlieferte Mystik des Ostens an Gültigem und Bedeutendem hervorgebracht hatte. Die Früchte einer solchen geistigen Synthese waren erstaunlich. So besaß er unter anderem die halb wissenschaftliche, halb magische Gabe, die atmosphärische Elektrizität nach seinem Willen anzuziehen und zu lenken. Das Volk sagte, er hole das Feuer vom Himmel. Immer wieder aber fesselte er die Phantasie der Massen durch unerhörte Gaukeleien, doch nie missbrauchte er seine Macht, um niedrigen Zwecken zu dienen.

Dieser Mann erschien nun vor dem großen Imperator. Er huldigte ihm als dem wahren Sohn Gottes, über den er in Geheimbüchern des Ostens bedeutsame Voraussagen entdeckt hätte. Dort sei zu lesen, der Imperator werde in dieser Würde zugleich der letzte Erlöser und Richter der Welt sein. Schließlich stellte er sich selbst und seine Kunst dem Imperator zur Verfügung. Der Imperator sah in ihm ein Geschenk des Himmels, zeichnete ihn mit prunkenden Titeln aus und machte ihn zu seinem ständigen Begleiter. So erhielten die Völker der Erde zu den Wohltaten des Weltfriedens und der Befriedigung ihres Hungers auch noch die Möglichkeit, sich ohne Unterlaß an den verschiedenartigsten und überraschendsten Wundern und Zaubereien zu ergötzen. Damit ging das dritte Jahr der Regierung des Übermenschen zu Ende.

(Fortsetzung folgt)

Die Serie

Kurze Erzählung vom Antichrist (06): Das Friedensreich des Imperators

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Das Friedensreich des Imperators

Bald nach Erscheinen dieses Werkes, das seinen Verfasser zum volkstümlichsten Mann machte, der je gelebt hatte, sollte in Berlin die konstituierende Versammlung der Vereinigten Staaten Europas stattfinden.
Dieser Bund hatte sich nach einer Reihe äußerer und innerer Kriege gebildet, die als Folge der Befreiung vom Mongolenjoch die Karte Europas grundlegend verändert hatten. Nun aber war der Bund durch Konflikte gefährdet, die aber nicht mehr zwischen den Nationen, sondern unter den politischen und sozialen Parteien ausgetragen wurden.

Die Verantwortlichen der europäischen Gesamtpolitik – sie gehörten zur mächtigen Brüderschaft der Freimaurer – kamen zur Überzeugung, daß eine gemeinsame Exekutivmacht notwendig sei. Die europäische Einheit, die nach so vielen Anstrengungen errungen worden war, lief ständig Gefahr, wieder zu zerfallen.

Im Bundesrat oder dem Verwaltungsdirektorium (Comité Permanent Universel) herrschte keine Einstimmigkeit, da es nicht gelungen war, alle führenden Stellen mit „eingeweihten“ Freimaurern zu besetzen. Im Rate selbst schlossen die unabhängigen Mitglieder untereinander Sonderabkommen und damit drohte ein neuer Krieg. Angesichts dieser Gefahr beschlossen die „eingeweihten“ Freimaurer, die vollziehende Gewalt einer einzigen Person zu übertragen, welche mit hinreichenden Vollmachten ausgestattet werden sollte.

Der geeignetste Kandidat war ein insgeheimes Mitglied des Ordens, eben jener Mann der Zukunft. Er war die einzige Persönlichkeit mit weltberühmtem Namen. Durch gelehrte Arbeiten auf dem Gebiete der Artillerie und durch sein Vermögen mächtiger Kapitalist, unterhielt er überall enge Beziehungen zu Kreisen der Hochfinanz und der Armee. In weniger aufgeklärten Zeiten hätte ihm der Makel seiner Ungewissen Herkunft geschadet. Seine Mutter, eine Person von fragwürdigem Vorleben, war in beiden Hemisphären wohl bekannt und unter vielen, sehr verschiedenen Männern hatten alle das gleiche Recht, sich für seinen Vater zu halten. In einem so fortschrittlichen Jahrhundert, das sogar das letzte sein sollte, konnten ihm derartige Umstände natürlich überhaupt nicht schaden.
Fast einstimmig wurde der Mann der Zukunft auf Lebenszeit zum Präsidenten der „Vereinigten Staaten von Europa“ gewählt.

Als er im überirdischen Glanz seiner jugendlichen Schönheit und Kraft auf der Tribüne erschien und mit hinreißendem Pathos sein Weltprogramm darlegte, beschloß die Versammlung in auflodernder Begeisterung, ihm die höchste Ehre zuteil werden zu lassen. Durch Zuruf wurde ihm der Titel eines römischen Imperators verliehen.
Der große Auserwählte erließ ein Manifest, das mit den Worten begann: „Völker der Erde! Meinen Frieden gebe ich Euch!“ und mit den Sätzen schloß: „Völker der Erde! Die Verheißungen haben sich erfüllt! Der ewige Weltfriede ist gesichert. Jeder Versuch, ihn zu stören, wird sofort auf unüberwindlichen Widerstand stoßen. Denn von jetzt an gibt es auf der Erde nur eine einzige Macht, die stärker ist als alle anderen Mächte, mögen diese getrennt oder gemeinsam vorgehen wollen. Diese Macht ist in meiner Hand vereinigt, in der Hand des bevollmächtigten Auserwählten Europas, in der Hand des Herrschers über alle seine Kräfte. Das Völkerrecht besitzt jetzt endlich jene Sanktionen, die ihm bisher fehlten, von nun an wird kein Staat zu erklären wagen ‚Krieg!‘, wenn ich sage ‚Friede!‘ — Völker der Erde, der Friede sei mit Euch!“

Das Manifest hatte den erwünschten Erfolg. Überall außerhalb Europas, besonders aber in Amerika, bildeten sich starke imperialistische Parteien, die ihre Regierungen veranlaßten, unter verschiedenen Bedingungen mit den Vereinigten Staaten von Europa unter der Führung des Römischen Imperators Bündnisse einzugehen.

(Fortsetzung folgt)

Die Serie

Kurze Erzählung vom Antichrist (05)

(Fortsetzung: Der Übermensch – zurückweiter)

Schaum vor dem Munde, entflieht er in jagender Hast dem Hause, dem Garten, in die unheimliche und finstere Nacht hinaus. Er eilt einen steinigen Saumpfad bergan. Allmählich legt sich seine Wut. Sie macht einer Hoffnungslosigkeit Platz, die so ausgebrannt und lastend wie diese Felsen, die so dunkel wie diese Nacht ist. Vor einem jähen Abgrund bleibt er stehen, aus der Tiefe hört er einen tosenden Wildbach, der über Geröll hinabstürzt. Eine wilde Qual preßt sein Herz.

Plötzlich rührt etwas an sein Inneres: „Soll ich Ihn beschwören, Ihn fragen, was ich tun soll?“ In der Finsternis erblickt er ein sanftes und trauriges Gesicht. „Er hat Mitleid mit mir … nein, niemals! Er ist nie auferstanden!“
Und er stürzt sich in den Abgrund.

Doch da hält ihn etwas Unfaßbares, etwas wie eine Wassersäule auf. Er fühlt eine Erschütterung wie von einem elektrischen Schlage, und eine geheimnisvolle Kraft wirft ihn zurück. Für einen Augenblick verliert er das Bewußtsein. Als er wieder zu sich kommt, liegt er wenige Schritte vor dem Abgrund auf den Knien. Vor ihm erstrahlt wie durch Nebel in phosphorischem Licht ein Gesicht. Zwei Augen bohren sich mit unerträglichem und schneidendem Glanz in seine Seele. Erstarrt unter diesem hypnotischen Blick hört er eine Stimme, ohne erraten zu können, ob sie aus seinem Innern oder von außen her kommt. Es ist eine seltsame Stimme, dumpf und dennoch klar, aber seelenlos wie schwingendes Metall.

So, als käme sie aus einer Sprechmaschine, spricht sie ihn an: „Du bist mein geliebter Sohn, an dem ich mein Wohlgefallen habe! Warum hast Du nicht mich gesucht? Warum hast Du jenen anderen vorgezogen, den Falschen und seinen Vater? Dein Gott und Dein Vater bin ich. Jener Bettler aber, der Gekreuzigte, ist mir und Dir fremd. Ich habe keinen anderen Sohn als Dich. Du bist der Einzige, der Eingeborene, der Ebenbürtige. Ich liebe Dich und ich fordere nichts von Dir. Du bist so schön, so groß und so mächtig. Vollbringe Dein Werk in Deinem, nicht in meinem Namen. Kein Neid gegen Dich ist in mir. Ich liebe Dich und ich will nichts von Dir. Der andere, jener, von dem Du geglaubt hast, Er sei Gott, forderte von seinem Sohn Gehorsam, unbegrenzten Gehorsam bis zum Kreuzestod — und dann verließ Er ihn. Ich aber werde Dir helfen, ohne etwas von Dir zu fordern. Aus einer uneigennützigen Liebe zu Dir, um Deiner Würde willen werde ich Dir helfen. Empfange meinen Geist! Wie einst mein Geist Dich in Schönheit hervorgehen ließ, so wird er Dich jetzt in Kraft neu erstehen lassen.“

Bei diesen Worten des Geheimnisvollen öffneten sich unwillkürlich die Lippen des Übermenschen. Seinem Gesicht näherten sich die zwei durchdringenden Augen. Er fühlte, wie ein eiskaltes Feuer ihn durchströmte und sein ganzes Wesen erfüllte. Aber zugleich empfand er auch eine nie gekannte Kraft, Kühnheit, Unbeschwertheit und Begeisterung.

Im selben Augenblick erlosch die schimmernde Erscheinung und mit ihr das Augenpaar. Irgendetwas erhob den Übermenschen weit über die Erde hinaus und ließ ihn ebenso plötzlich wieder in seinem Garten, an der Schwelle des Hauses nieder.

Am nächsten Tage waren nicht nur die Besucher, sondern auch die Diener des großen Mannes erstaunt über den vergeistigten Ausdruck seines Gesichtes. Sie wären noch mehr überrascht gewesen, hätten sie sehen können, wie er, eingeschlossen in seinem Arbeitszimmer, mit übernatürlicher Schnelligkeit und Leichtigkeit sein berühmtes Werk schrieb, das den Titel trug: „Offener Weg zum Weltfrieden und allgemeinen Wohlstand.“

Die früheren Schriften und die soziale Tätigkeit des Übermenschen hatten manche strenge Kritik gefunden. Doch diese Kritik war hauptsächlich von rein religiösen Menschen geübt worden, die allein schon deshalb keinen Einfluß besaßen. — Denn es ist ja von jenen Zeiten die Rede, in denen der Antichrist auftrat. Daher hatte man auch kaum auf die Kritiker gehört, die in allen Werken und Reden dieses Mannes der Zukunft Anzeichen einer außerordentlichen Selbstliebe, eines starken Dünkels und den Mangel jeder Einfachheit und wahren Herzenswärme betonten. Sein neues Werk gewann aber selbst einige seiner bisherigen Kritiker und Gegner.

Dieses Buch, unmittelbar nach dem Erlebnis am Abgrunde geschrieben, offenbarte eine vorher noch unbekannte Kraft seines Genies. Es war etwas Allumfassendes, in dem sich alle Widersprüche lösten. Hier vereinigten sich vornehme Ehrerbietung vor den Überlieferungen und Symbolen der Vergangenheit und weitgehender kühner Radikalismus in den politischen wie sozialen Sehnsüchten und Forderungen, unbegrenzte Gedankenfreiheit und tiefstes Verständnis der Mystik, bedingungsloser Individualismus mit begeisterter Hingabe an das Allgemeinwohl, erhabener Idealismus in den Prinzipien und Bestimmtheit wie Lebenserfahrung in den praktischen Entscheidungen.
Und dies alles war durch ein so ideales Künstlertum vereinigt und verbunden, daß jeder Denker und jeder Praktiker das Ganze als seine Meinung auffassen konnte, also ohne etwas für die Wahrheit selbst zu opfern, ohne sich ihretwegen über sein eigenes Ich erheben zu müssen und ohne von seiner eigenen Befangenheit oder seinen Irrtümern ablassen und ihre Mängel berichtigen zu müssen. In kurzer Zeit wurde dieses erstaunliche Buch in alle Kultursprachen und sogar in die Sprachen mehrerer Kolonialvölker übersetzt. Ein ganzes Jahr hindurch waren die Spalten tausender Zeitungen in allen Teilen der Welt ausgefüllt mit Anpreisungen der Verleger und begeisterten Besprechungen der Kritiker. Billige, mit dem Bild des Autors ausgestattete Volksausgaben wurden in Millionen Exemplaren verbreitet. Die ganze Kulturwelt – zu dieser Zeit schon fast der ganze Erdball – war erfüllt vom Ruhme dieses unvergleichlichen, großen und einzigartigen Mannes.

Niemand widersprach diesem Buch, schien es doch tatsächlich die Offenbarung der ungeteilten Wahrheit zu sein. Hier wurde die Vergangenheit mit so viel Gerechtigkeit beurteilt, die Gegenwart so unparteiisch und allseitig gewertet, die schönere Zukunft so überzeugend und anschaulich der Gegenwart nahegebracht, daß jedermann sagte: „Das ist es, was wir nötig haben, hier ist ein Ideal, das keine Utopie und kein Hirngespinst ist.“ – Der begnadete Schriftsteller begeisterte nicht nur die ganze Welt, er war auch jedermann angenehm.

So erfüllte sich das Wort Christi: „Ich kam im Namen meines Vaters und Ihr nehmt mich nicht auf; ein anderer aber wird in seinem eigenen Namen kommen und diesen werdet Ihr aufnehmen.“  Um aufgenommen zu werden, muß man angenehm sein. Allerdings fragten sich einige gottesfürchtige Männer, die im übrigen das Buch sehr lobten, warum Christus darin nicht ein einziges Mal erwähnt würde. Darauf antworteten andere Christen: „Gott sei Dank! In den vergangenen Jahrhunderten wurde alles Heilige oft genug von unberufenen Eiferern entweiht, so daß heute ein wirklich religiöser Schriftsteller hierin sehr vorsichtig sein muß. Wenn aber der Inhalt eines Buches vom wahren Geist des Christentums, von tätiger Liebe und allumfassender Güte durchdrungen ist, was braucht es da noch mehr?“ Und damit gaben sich alle zufrieden.

(Fortsetzung folgt)

Die Serie

Demokratie und Tradition

Ich habe nie verstehen können, wie Menschen zu der Ansicht gelangen, Demokratie und Tradition stünden irgendwie im Gegensatz zueinander.

Es liegt doch auf der Hand, dass Tradition nichts weiter ist als Demokratie in zeitlicher Erstreckung. Tradition baut auf den Einklang gewöhnlicher menschlicher Stimmen statt auf irgendeine vereinzelte oder willkürliche Quelle. Wer zum Beispiel irgendeinen deutschen Historiker gegen die Überlieferung der katholischen Kirche ins Feld führt, der beruft sich auf ein rein aristokratisches Prinzip. Er gibt einem einzelnen Fachmann den Vorrang vor der furchtbaren Überzeugungsmacht einer Masse. Es lässt  sich unschwer einsehen, warum eine Volksüberlieferung mit mehr Ehrfurcht behandelt wird und auch behandelt werden muss als ein Geschichtsbuch.

Die Volksüberlieferung ist normalerweise von der Mehrzahl geistig gesunder Menschen im Dorf geschaffen, während das Buch im Zweifelsfall von dem einzigen Menschen im Dorf geschrieben wird, der verrückt ist. Wer gegen die Tradition geltend macht, dass die Menschen in der Vergangenheit unwissend waren, der gehört inden Cariton Club* , wo er seine Ansichten zum besten geben kann, nebst der Feststellung, dass die Wähler in den Slums Ignoranten sind. Wir können damit nichts anfangen. Wenn wir bei den Alltagsgeschäften der einhelligen Meinung gewöhnlicher Menschen große Bedeutung beimessen, dann ist nicht einzusehen, warum wir diese Meinung gering schätzen sollten, wenn es sich um Geschichte oder Volksüberlieferung handelt.

Tradition lässt  sich als erweitertes Stimmrecht fassen. Tradition bedeutet, dass man der am meisten im Schatten stehenden Klasse, unseren Vorfahren, Stimmrecht verleiht. Tradition ist Demokratie für die Toten. Sie ist die Weigerung, der kleinen, anmaßenden Oligarchie derer, die zufällig gerade auf der Erde wandeln, das Feld zu überlassen. Jeder Demokrat ist dagegen, dass die Menschen durch den Zufall ihrer Geburt Nachteile erleiden; die Tradition verwahrt sich dagegen, dass sie durch den Zufall ihres Todes benachteiligt werden.

Die Demokratie heißt uns, die Meinung keines ehrlichen Mannes zu missachten, selbst wenn es unser Stallknecht ist; die Tradition heißt uns, die Meinung keines ehrlichen Mannes zu missachten, selbst wenn es unser Vater ist. Ich jedenfalls vermag die beiden, Ideen Demokratie und Tradition nicht voneinander zu trennen; mir scheint klar, dass es sich um ein und dieselbe Idee handelt. Bei unseren Beratungen sind die Toten zugegen. Die alten Griechen stimmten mit Steinen ab; jene stimmen mit Grabsteinen ab. All das ist ganz in Ordnung und vorschriftsgemäß, da die meisten Grabsteine wie die meisten Wahlzettel mit einem Kreuz markiert sind.

Aus: G.K. Chesterton: Orthodoxie, Abschnitt IV. DIE ETHIK DES ELFENLANDES

*:Ein streng konservativer politischer Klub, der im Jahre 1832 vom Herzog von Wellington in London gegründet wurde und der heute seine Mitglieder auf strikte Treue gegenüber den Prinzipien der Konservativen Partei vereidigt.

Kurze Erzählung vom Antichrist (04): Der Übermensch

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Der Übermensch

In jener Zeit trat unter diesen Gläubigen ein bedeutender Mann auf – viele hielten ihn für einen Übermenschen, – der weder einen primitiven Geist besaß, noch auch freilich dem Herzen nach ein Kind war. Obgleich er erst dreiunddreißig Jahre zählte, war er durch seinen Genius schon als Denker, Schriftsteller und Sozialreformer berühmt. Trotzdem er um seine große Begabung wußte, unterwarf er sich aus Überzeugung den Geboten des Geistes. So ließ ihn sein klarer Verstand stets auch die Wahrheit des Glaubens erkennen, des Glaubens an das Gute, an Gottes Dasein und an die Offenbarung des Messias. Er glaubte an dies alles, aber er liebte nur sich selbst. Er glaubte an Gott, doch im Abgrund seines Herzens gab er sich selbst unwillkürlich und ohne sich darüber Rechenschaft zu geben, vor Gott den Vorzug.

Er glaubte auch an das Gute, doch das Auge der Ewigkeit, dem nichts verborgen bleibt, sah, daß dieser Mensch sich vor der Macht des Bösen beugen würde, wenn diese ihn nur zu verführen wüßte – nicht durch Befriedigung von Gefühlen und niederen Leidenschaften, nicht einmal durch die gefährliche Versuchung der Macht – sondern allein dadurch, daß sie seiner maßlosen Selbstliebe schmeicheln würde.

Diese Selbstliebe war aber weder ein instinktiver Drang, noch eine sinnlose Anmaßung. Denn seine außerordentlichen Gaben, seine Schönheit, sein vornehmes Wesen schienen zusammen mit zahlreichen Beweisen von Enthaltsamkeit, Uneigennützigkeit und Wohltätigkeit genügend die ungeheure Selbstliebe zu rechtfertigen, die den Charakter dieses großen Spiritualisten, Asketen und Menschenfreundes bestimmte. Wer hätte ihn anklagen dürfen, daß er in der Fülle dieser Gottesgaben ein sichtbares Zeichen der Auserwählung von oben her erblickte und sich als den Zweiten nach Gott, als den in seiner Art einzigen Sohn Gottes ansah? Mit einem Wort, er hielt sich für Jenen, der in Wahrheit Christus allein ist.

Doch das Bewußtsein seiner hohen Würde war für ihn nicht eine sittliche Verpflichtung gegenüber Gott und der Welt, vielmehr ein Vorrecht gegenüber seinen Nächsten und vor allem gegenüber Christus. Nicht, daß er von Anfang an Jesus gehaßt hätte, nein, er anerkannte dessen messianische Berufung und Würde. In gutem Glauben sah er in Ihm nur seinen großen Vorläufer. Diesem von der Selbstliebe trunkenen Verstand blieb die sittliche Sendung und die einzigartige Erscheinung Christi unfaßbar.

Er urteilte so: „Christus ist vor mir gekommen, ich komme als zweiter. Was aber in der Zeit nachfolgt, ist seinem Wesen nach übergeordnet. Ich komme am Ende der Geschichte, weil ich der vollkommene und endgültige Erlöser bin. Der erste Christus ist mein Vorläufer. Seine Aufgabe war, mir vorauszugehen und meine Erscheinung vorzubereiten.“

Daher bezog der große Mann des einundzwanzigsten Jahrhunderts alles auf sich, was im Evangelium von der Wiederkunft des Herrn gesagt wird. Er erklärte diese Wiederkunft nicht als die Rückkehr des ersten Christus, sondern so, daß nunmehr der Vorläufer durch den wahren Christus ersetzt würde, nämlich durch ihn selbst.
Auf dieser Stufe des Selbstbewußtseins war der kommende Mann noch wenig originell und charakteristisch. Auch Mohammed hatte sein Verhältnis zu Christus ähnlich aufgefaßt. Und Mohammed war gerecht und konnte keiner bösen Absicht bezichtigt werden.

Im übrigen suchte dieser Mensch seine Selbsteinschätzung, mit der er sich über Christus erhob, noch durch folgende Überlegung zu rechtfertigen: „Christus hat durch Predigt und lebendiges Beispiel des Sittengesetzes die Menschheit gebessert. Ich aber bin ausersehen, der Beglücker aller Menschen zu sein, seien sie schon gebessert, seien sie unverbesserlich.

Ich werde allen Menschen das geben, dessen sie bedürfen. Christus hat als Moralist die Menschen nach Guten und Bösen geschieden, ich aber werde sie durch Wohltaten wieder vereinigen, die sowohl die Guten als auch die Bösen nötig haben. Ich werde der wahre Statthalter Gottes sein, der seine Sonne scheinen läßt für Gute und Böse in gleicher Weise, der Regen spendet den Gerechten und Ungerechten. Christus hat das Schwert gebracht, ich hingegen werde den Frieden bringen. Er bedrohte die Erde mit der Furchtbarkeit des Jüngsten Gerichtes, ich aber werde der letzte Richter sein und mein Gericht wird nicht nur Gerechtigkeit, sondern vor allem Gnade offenbaren. Gewiß wird auch mein Urteil gerecht sein, doch ich will nicht vergelten, sondern schenken. Ich kenne jeden, wie er ist, und werde ihm nach seiner Bedürftigkeit zuteilen.“

In dieser erhabenen Stimmung erwartet er, Gott werde ihn ausdrücklich zu neuer Heilstat an der Menschheit berufen. Er erwartet ein sichtbares und leuchtendes Zeichen, das ihm als dem ältesten Sohn, dem geliebten Erstgeborenen Gottes Zeugnis geben werde. Er wartet und nährt seine Selbstliebe durch das Bewußtsein seiner Tugenden und seiner übernatürlichen Gaben. Denn er war ja der Mensch ohne Tadel und der Inbegriff der Genialität.

So erwartet dieser stolze Gerechte die Anerkennung des Höchsten, um die Errettung der Menschheit zu beginnen. — Aber er wird des Wartens müde. Er ist schon dreißig Jahre, doch noch vergehen drei Jahre. Da durchzuckt ihn ein Gedanke wie ein Fieberschauer bis ins Mark der Knochen: „Aber wenn? … Wenn nicht ich es wäre, sondern der andere? … Der Galiläer? … Wenn er doch nicht mein Vorläufer wäre, sondern der Wahre, der Erste und der Letzte: … Aber dann müßt Er ja leben … Wo aber ist Er? … Könnte Er nicht zu mir kommen? … Gleich, hier? … Was würde ich zu Ihm sagen? Ich müßte mich vor ihm beugen wie der einfältigste Christ … Wie ein russischer Bauer ohne Verstand murmeln: ‚Herr Jesus Christus, erbarme Dich meiner Sünden‘, … oder ich müßte mich wie ein Polenweib mit ausgebreiteten Armen vor Ihm zu Boden werfen. – Ich, der erhabene Genius, ich, der Übermensch … Nein, niemals!“

Aus seinem Herzen erhebt sich das Entsetzen und verdrängt die einstige kalte und vernünftige Achtung vor Gott. Es wächst immer mehr an und schlägt endlich in verzehrenden Neid um, der ihn bedrückt und sein ganzes Wesen erfaßt. Ein wütender Haß flammt in ihm auf: „Ich, ich bin es – nicht Er! Er ist gar nicht mehr unter den Lebenden und niemals mehr wird Er unter ihnen weilen, nie ist Er auferstanden! Verwest ist Er, verfault im Grabe wie der letzte …“

(Fortsetzung folgt)

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